Die Wahrheit eines Augenblicks
offenbart, dass sie dagegen Prozac einnahmen. Immerhin hatte John-Paul immer so seine … Phasen. Oft folgten sie auf einen Migräneanfall. Es dauerte dann eine Woche oder so, in der er dann stets leicht verpeilt unterwegs war. Er sprach völlig normal und ging wie immer seiner Arbeit nach, hatte jedoch einen seltsam leeren Ausdruck in den Augen, als hätte sich der echte John-Paul für eine Weile ausgeklinkt und sein sehr authentisches Double geschickt. » Alles okay?« , fragte Cecilia dann, und er brauchte immer einen Moment, bis er reagierte und sagte: » Sicher. Mir geht es gut .«
Doch das war stets ein vorübergehender Zustand. Plötzlich war John-Paul wieder da, völlig präsent, hörte ihr und den Mädchen mit all seiner Aufmerksamkeit zu, und Cecilia war überzeugt, sich alles bloß eingebildet zu haben. Diese »Phasen« waren wahrscheinlich nur eine Folge der Migräneanfälle.
Aber Weinen unter der Dusche? Was gab es denn zu weinen? Es lief doch alles prima.
John-Paul hatte einen Selbstmordversuch hinter sich.
Diese Tatsache drang langsam und nur widerstrebend an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Es war etwas, an das sie nicht allzu oft zu denken versuchte.
Es war in seinem ersten Jahr an der Universität gewesen, bevor er mit Cecilia zusammengekommen war. Offenbar war er zeitweise »aus der Spur geraten«, und dann, eines Abends, schluckte er eine ganze Packung Schlaftabletten. Sein Mitbewohner, der an jenem Wochenende eigentlich seine Eltern besuchen wollte, kam zufällig früher zurück und fand ihn. »Was ging dir denn dabei durch den Kopf?«, hatte Cecilia ihn gefragt, als sie zum ersten Mal davon erfahren hatte. »Es schien alles so schwer«, sagte John-Paul. »Einfach für immer einzuschlafen schien die bessere Alternative zu sein.« Über die Jahre hinweg hatte Cecilia immer mal wieder versucht, mehr über diese Zeit in seinem Leben von ihm zu erfahren. »Aber wieso schien dir alles so schwer? Was genau war so schwer?« Doch John-Paul war offenbar nicht in der Lage, es klarer zu definieren. »Ich denke, ich war einfach ein typischer Teenager, der das Leben satthatte«, erklärte er. Kapiert hatte Cecilia das nicht. Sie hatte das Leben nie sattgehabt, als sie ein Teenie gewesen war. Irgendwann gab sie es auf nachzubohren und sah John-Pauls Selbstmordversuch als einen Ausrutscher in seiner Vergangenheit. »Ich brauche einfach eine gute Frau«, meinte er zu ihr. Und das stimmte. Er hatte vor Cecilia nie ernsthaft eine Freundin gehabt. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir schon Sorgen gemacht, dass er schwul sein könnte«, hatte einer seiner Brüder ihr einmal anvertraut.
Womit sie wieder beim Thema »schwul« war.
Aber sein Bruder hatte ja nur gescherzt.
Ein unerklärter Selbstmordversuch in Jugendjahren und jetzt, nach all den Jahren, heulte er unter der Dusche!
»Manchmal haben die Erwachsenen den Kopf echt voll mit großen Problemen, Esther«, bemerkte Cecilia vorsichtig. Sie sah es als ihre oberste Pflicht, ganz sicherzugehen, dass Esther nicht betroffen war. »Ich bin sicher, Daddy war nur …«
»He, Mum, kann ich mir das Buch über die Berliner Mauer als Weihnachtsgeschenk bei Amazon bestellen? Bitte!«, fragte Esther. »Ich kann es auch gleich bestellen. Alle Bewertungen haben fünf Sterne gegeben!«
»Nein«, antwortete Cecilia. »Du kannst es dir in der Bücherei ausleihen.«
Und so Gott will, werden wir bis Weihnachten hoffentlich aus Berlin geflüchtet sein.
Sie lenkte den Wagen in das Parkhaus unter der Praxis der Sprachtherapeutin, kurbelte die Scheibe runter und drückte den Knopf der Sprechanlage.
»Wie kann ich helfen?«
»Wir haben einen Termin bei Caroline Otto«, sagte Cecilia. Sogar jetzt, da sie mit der Empfangsdame sprach, artikulierte sie jeden Vokal überdeutlich.
Als sie das Auto parkte, ging sie noch einmal jede einzelne neue Tatsache gedanklich durch.
John-Paul sieht Isabel komisch, »traurig« oder »böse« an.
John-Paul weint unter der Dusche.
John-Paul hat keine Lust auf Sex.
John-Paul lügt ihr etwas vor.
Das war alles sonderbar und besorgniserregend. Doch all das war auch begleitet von etwas, das ihr in der Tat ein leichtes Gefühl der Vorfreude verschaffte.
Sie schaltete die Zündung aus, zog die Handbremse an und löste den Sicherheitsgurt.
»Na, los«, sagte sie zu Esther und öffnete die Autotür. Sie wusste, was ihr diesen Kick verschaffte. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Irgendetwas stimmte hier nicht, so viel war klar. Und sie
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