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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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hatte die moralische Verpflichtung, etwas Unmoralisches zu tun. Denn das war das geringere Übel. Sie hatte jedes Recht dazu.
    Sobald die Mädchen am Abend im Bett wären, würde sie tun, was sie von vornherein hatte tun wollen. Sie würde diesen gottverdammten Brief öffnen.

10
    Es klopfte an der Tür.
    »Ignorier es!« Tess’ Mutter sah nicht von ihrem Buch auf.
    Tess, Liam und Lucy saßen in getrennten Sesseln im sogenannten »vorderen Zimmer« und hatten sich jeder mit einer kleinen Schale Schokoladentäfelchen auf dem Schoß in ein Buch vertieft. Für Tess eine geliebte Gewohnheit aus Kindertagen: Schokolade essen, neben ihrer Mutter sitzen und lesen. Danach machten sie dann immer ein wenig Gymnastik, um sich die Schokolade gleich wieder von den Hüften zu trainieren.
    »Vielleicht ist das Dad.« Liam legte sein Buch zur Seite. Tess war überrascht, wie schnell er dabei gewesen war, sich mit ihnen zusammen hinzusetzen und zu lesen. Muss die Schokolade gewesen sein. Zu Hause brachte sie ihn nie dazu, seine Sachen für die Schule zu lesen.
    Und nun kam er komischerweise auf eine neue Grundschule. Einfach so. Morgen . Es war befremdlich, wie ihn diese seltsame Frau überzeugt hatte, gleich am nächsten Tag mit dem Unterricht anzufangen – nur weil sie ihm eine Ostereiersuche versprochen hatte.
    »Du hast erst vor ein paar Stunden mit deinem Dad in Melbourne gesprochen«, erinnerte sie Liam und hielt ihren Ton neutral. Er und Will hatten ganze zwanzig Minuten miteinander geredet. »Ich spreche später mit Daddy«, hatte Tess gesagt, als Liam ihr den Hörer hatte reichen wollen. Sie hatte am Morgen mit Will telefoniert. Nichts hatte sich geändert. Sie wollte diese schreckliche, ernste neue Stimme nicht schon wieder hören. Und was sollte sie auch sagen? Dass sie in der Schule zufällig einem Exfreund begegnet war? Und Will dann fragen, ob er eifersüchtig sei?
    Connor Whitby. Es musste über fünfzehn Jahre her sein, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sie waren nicht mal ein Jahr zusammen gegangen. Tess hatte ihn nicht einmal erkannt, als er ins Sekretariat gekommen war. Er hatte alle seine Haare verloren und schien viel größer und breiter zu sein als der Connor, den sie in Erinnerung hatte. Sie hatte sich in der Schule ohnehin die ganze Zeit unbehaglich gefühlt. Und dann saß sie auch noch einer Frau gegenüber, deren Tochter ermordet worden war.
    »Vielleicht ist Daddy ja mit dem Flieger hergeflogen, um uns zu überraschen«, meinte Liam.
    Da klopfte es plötzlich an die Fensterscheibe, direkt neben Tess’ Kopf. »Ich weiß, dass ihr alle hier drinnen seid!«, rief eine Stimme.
    »Himmelherrgott!« Lucy klappte ihr Buch laut hörbar zu.
    Tess drehte sich um und erkannte das Gesicht ihrer Tante, die sich die Nase am Zimmerfenster platt drückte, die Hände wie zwei Fernrohre um die Augen gelegt, sodass sie besser hineinspähen konnte.
    »Mary, ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht vorbeikommen!« Lucys Stimme sprang etliche Oktaven höher. Wie immer, wenn sie mit ihrer Zwillingsschwester redete, klang sie vierzig Jahre jünger.
    »Mach die Tür auf!« Tante Mary klopfte erneut fest an die Scheibe. »Ich muss mit Tess sprechen!«
    »Sie will aber nicht mit dir sprechen!« Lucy hob ihre Krücke und fuchtelte damit durch die Luft in Marys Richtung.
    »Mum«, sagte Tess.
    »Sie ist meine Nichte! Ich habe Rechte!« Tante Mary versuchte, am Holzfensterrahmen zu rütteln.
    »Sie hat auch Rechte«, schnaubte Tess’ Mutter. »Was für ein Theater …«
    »Aber warum kann sie denn nicht reinkommen?« Liam kräuselte fragend die Stirn.
    Tess und Lucy tauschten Blicke. Sie waren bisher immer vorsichtig gewesen mit allem, was sie in Gegenwart des Jungen gesagt hatten.
    »Natürlich kann sie reinkommen.« Tess legte ihr Buch weg und stand auf. »Grandma wollte sie nur ein bisschen veräppeln.«
    »Genau, Liam, ein ziemlich blödes Spiel«, brummelte ihre Mutter.
    »Lucy, lass mich rein! Ich fühle mich echt einer Ohnmacht nahe«, rief Tante Mary. »Ich kippe jeden Moment auf deine geliebten Gardenien!«
    »Wirklich ein lustiges Spiel!« Lucy gluckste überspannt. Tess fühlte sich daran erinnert, dass ihre Mutter früher unbedingt so lange wie möglich den Mythos Weihnachtsmann hatte aufrechterhalten wollen. Sie war die schlechteste Lügnerin auf diesem Planeten.
    »Geh, lass sie rein!«, sagte Tess zu Liam. Sie drehte sich zum Fenster, um Tante Mary zu bedeuten, dass der Kleine ihr gleich die Tür öffnen würde.

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