Die Wahrheit eines Augenblicks
»Was ist los mit dir? Ganz ehrlich, was ist los mit dir? Tess und Will sind verheiratet. Und hast du vergessen, dass auch ein Kind betroffen ist, ein richtiges, lebendiges Kind? Mein Enkel?«
»Aber siehst du denn nicht, dass sie verzweifelt versuchen, es irgendwie gut hinzukriegen?«, entgegnete Mary und sah Tess dabei an. »Sie lieben euch wirklich sehr.«
»Wie schön von ihnen«, sagte Tess.
In den vergangenen zehn Jahren hatte Will sich nicht ein Mal über die Tatsache beklagt, dass Felicity so viel Zeit mit ihnen verbrachte. Vielleicht war das schon ein Zeichen gewesen. Ein Zeichen, dass Tess allein ihm nicht genügte. Welcher normale Ehemann hätte Lust, die dicke Cousine seiner Frau jedes Jahr mit in den Sommerurlaub zu nehmen? Es sei denn, er ist verliebt in sie. Wie doof konnte man sein, das zu übersehen? Tess hatte sich darüber gefreut, wenn die beiden geschäkert, gestichelt und sich geneckt hatten. Sie hatte sich nie ausgeschlossen gefühlt. Alles war schöner, aufregender, lustiger, spannender, wenn Felicity dabei war. Tess hatte dann das Gefühl, mehr sie selbst zu sein, denn Felicity kannte sie besser als sonst irgendwer. Sie ließ Tess erstrahlen. Felicity lachte am lautesten über Tess’ Witze. Sie trug dazu bei, dass Tess ihre eigene Persönlichkeit fand und entwickeln konnte, sodass Will sie sehen konnte, wie sie wirklich war.
Und Tess fühlte sich hübscher, wenn Felicity bei ihr war.
Sie drückte die kalten Fingerspitzen an ihre heißen Wangen. Es war beschämend, aber wahr. Sie hatte sich nie von Felicitys Körperfülle abgestoßen gefühlt, nein, sie hatte sich vielmehr besonders schlank und zierlich gefühlt, wenn sie neben ihr stand.
Und das hatte sich auch nicht geändert, als Felicity an Gewicht verloren hatte. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass Will begehrliche Blicke auf ihre Cousine werfen könnte. Tess war sich ihrer Position in diesem kleinen Dreiergespann so absolut sicher gewesen. Sie bildete die oberste Spitze des Dreiecks. Will liebte sie am allermeisten. Felicity liebte sie am allermeisten. Wie egozentrisch sie doch gewesen war!
»Tess?« Mary riss sie aus ihren Gedanken.
»Lass uns über etwas anderes sprechen.« Tess legte eine Hand auf den Arm ihrer Tante.
Zwei dicke Tränen rannen über Marys rosige, gepuderte Wangen und hinterließen dabei wässrige Spuren wie Schleimspuren einer Schnecke. Mary tupfte sie mit einem verkrumpelten Taschentuch ab. »Phil wollte nicht, dass ich herkomme. Er sagte, ich mache mehr kaputt als heil, doch ich dachte, ich könnte es irgendwie hinkriegen. Den ganzen Morgen habe ich mir Kinderfotos von dir und Felicity angesehen, wie ihr zusammen aufgewachsen seid. Ihr hattet so viel Spaß zusammen! Das ist ja gerade das Schlimmste dabei. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr euch entfremden würdet.«
Tess tätschelte den Arm ihrer Tante. Ihre Augen fühlten sich trocken an, ihr Herz verkrampft, hart wie eine Faust. »Ich denke, du wirst es ertragen müssen.«
11
»Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich mit dir auf eine Tupper-Party komme?«, hatte Rachel zu Marla gesagt, als sie sie vor ein paar Wochen beim gemeinsamen Kaffeekränzchen gefragt hatte.
»Du bist meine beste Freundin.« Marla rührte Zucker in ihren entkoffeinierten Kaffee mit Sojamilch.
»Meine Tochter wurde ermordet«, sagte Rachel. »Damit habe ich für den Rest meines Lebens einen Nicht-Partygänger-Joker. Das gilt auch für Tupper-Partys.«
Marla hob die Brauen. Sie hatte immer schon besonders »sprechende« Augenbrauen gehabt.
Und Marla hatte jedes Recht, ihre Augenbrauen sprechen zu lassen. Ed war geschäftlich in Adelaide (Ed war immer geschäftlich unterwegs), als zwei Polizisten vor Rachels Tür gestanden hatten – damals. Marla hatte Rachel zur Leichenschauhalle begleitet und war fest an ihrer Seite geblieben, als man ein gewöhnliches weißes Bettlaken hob und Janies Gesicht zum Vorschein kam. Marla war da, reagierte prompt, als Rachels Beine wegsackten. Sie fing sie augenblicks auf, mit fachgemäßem Griff, packte sie mit einer Hand unter dem Ellbogen, mit der anderen am Oberarm. Marla war Hebamme und hatte jede Menge Erfahrung damit, stramme Ehemänner aufzufangen, bevor sie umkippten und auf dem Boden aufschlugen.
»Entschuldige«, sagte Rachel.
»Janie wäre auf meine Party gekommen.« Marla hatte Tränen in den Augen. »Janie liebte mich.«
Und das stimmte. Janie hatte Marla förmlich angehimmelt. Sie hatte Rachel ständig in den Ohren
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