Die Wahrheit eines Augenblicks
sah sie kurz zu ihm hinauf und hob noch einmal entschuldigend die Hand (auf einer Seite des Autos hatte sie eine Tupperware-Werbeaufschrift geklebt – sie wollte den Ruf der Firma auf keinen Fall ruinieren). Der Fahrer hatte die Scheibe runtergefahren und lehnte sich halb hinaus. Die blanke Zornesröte im Gesicht, schlug er mit der Faust immer wieder in seine flache Hand.
»Ja, ja, schon gut!«, murrte sie.
»Ich glaube, der Mann will dich umbringen«, sagte Polly.
»Der Mann ist wütend «, wetterte Cecilia. Ihr Herz raste, als sie aufmerksam zum Ballettstudio weiterfuhr, übergenau in sämtliche Spiegel schaute und den Blinker mehr als frühzeitig setzte, um den anderen Fahrern ihre Fahrabsichten anzuzeigen.
Sie drehte die Scheibe runter und sah Polly nach, die ins Ballettstudio davonrannte, ihr rosafarbenes Tutu wippte, und ihre zierlichen Schulterblätter ragten wie kleine Flügelchen unter ihrem eng anliegenden Trikot hervor.
Da erschien Melissa McNulty an der Tür und bedeutete ihr, dass es klarginge und sie Polly heute vom Ballett abholen würde. Cecilia lächelte, winkte zurück und wendete den Wagen. Vielleicht sollte sie Melissa vorsichtshalber aber noch einmal anrufen.
»Wenn das hier Berlin wäre und Carolines Büro auf der anderen Seite der Mauer, dann könnte ich nicht zu ihr in die Sprachtherapie gehen«, sagte Esther.
»Da ist was dran.«
»Wir könnten ihr helfen zu flüchten ! Wir könnten sie im Kofferraum des Autos verstecken. Sie ist ja ziemlich klein. Ich denke, sie würde ganz gut reinpassen. Es sei denn, sie leidet an Klaustrophobie wie Daddy.«
»Ich habe das Gefühl, Caroline ist eine, die ihre Flucht wahrscheinlich allein organisieren würde«, sagte Cecilia. Wir haben schon genug für sie ausgegeben! Da werden wir ihr nicht auch noch helfen, aus Ost-Berlin zu fliehen !
Esthers Sprachtherapeutin war einschüchternd, mit all den perfekt artikulierten Vokalen. Wann immer Cecilia mit ihr sprach, ertappte sie sich dabei, dass sie jede Silbe äußerst sorgfältig aussprach, als würde sie einer Sprechprüfung unterzogen.
»Ich glaube nicht, dass Daddy Isabel komisch anguckt«, sagte Esther.
»Glaubst du nicht?«, fragte Cecilia froh und erleichtert. Du liebe Güte! Wie melodramatisch sie doch war! Dabei hatte Polly nur eine ihrer seltsamen, kleinen Beobachtungen kundgetan, und Cecilia dachte sofort an sexuellen Missbrauch. Sie sah wohl zu viel Müll im Fernsehen.
»Aber er hat geweint, neulich, bevor er nach Chicago reiste«, fuhr Esther fort.
»Was?«
»Unter der Dusche. Ich bin in euer Badezimmer gegangen, um die Nagelschere zu holen, und da war Daddy, und er weinte.«
»Nun, meine Süße, hast du ihn denn gefragt, warum er weint?«, fragte Cecilia und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie auf die Antwort brannte.
»Nö«, antwortete Esther beschwingt. »Wenn ich weine, will ich auch nicht dabei gestört werden.«
Mist, verdammter! Wenn das Polly passiert wäre, hätte sie die Duschwand zurückgeschoben und von ihrem Vater prompt eine Antwort verlangt.
»Ich wollte dich fragen, warum Daddy geweint hat«, sagte Esther gedankenvoll. »Aber dann habe ich es wieder vergessen. Hatte so viele andere Sachen im Kopf.«
»Egal, ich glaube nicht, dass er geweint hat. Er hat wahrscheinlich … geschnieft oder so«, meinte Cecilia. Die Vorstellung, John-Paul habe weinend unter der Dusche gestanden, war völlig schräg, total bizarr. Warum sollte er weinen, außer wenn etwas Schreckliches passiert wäre? Er war kein weinerlicher Typ, kein Jammerlappen. Als die Mädchen geboren wurden, hatten seine Augen geglänzt, und als sein Vater unerwartet gestorben war, hatte John-Paul das Telefon aufgelegt und einen seltsam brüchigen Laut vernehmen lassen, als hätte er sich an etwas Kleinem, Flockigem verschluckt. Aber abgesehen davon hatte Cecilia ihn nie weinen sehen.
»Er hat nicht geschnieft«, sagte Esther. »Er hat geweint.«
»Vielleicht hatte er einen seiner Migräneanfälle«, erwiderte Cecilia, obwohl sie wusste, dass Duschen das Letzte wäre, wonach John-Paul der Sinn stehen würde, wenn er eine seiner lähmenden Migräneattacken hatte. Dann musste er allein sein, im Bett, in einem dunklen, ruhigen Zimmer.
»Hm, Mum, Daddy duscht nie, wenn er Migräne hat«, sagte Esther, die ihren Vater genauso gut kannte wie Cecilia ihren Mann.
Depressionen vielleicht? Die schien im Augenblick jeder zu haben. Auf einer Dinner-Party neulich hatte gut die Hälfte der Gäste
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