Die Wahrheit eines Augenblicks
morgen?«
»Ostereiersuche.«
»Aha«, sagte Felicity. »Schokolade. Liams Superman-Nahrung. Er wird aber nicht von einer der psychotischen Nonnen unterrichtet, die wir damals hatten?«
Bilde dir bloß nicht ein, mit mir plaudern zu können, als wäre alles normal!, dachte Tess. Doch aus irgendeinem Grund redete sie dann selbst weiter. Sie war eigentlich viel zu müde dazu, aber mit Felicity zu plaudern war eine tief sitzende, eingeschliffene Gewohnheit. Sie hatte jeden Tag mit ihr geschwatzt. Felicity war ihre beste Freundin, ihre einzige Freundin.
»Die Nonnen sind alle tot«, sagte sie. »Doch der Sportlehrer ist Connor Whitby. Erinnerst du dich an ihn?«
»Connor Whitby«, wiederholte Felicity. »Dieser schwermütige, finstere Typ, mit dem du mal zusammen warst, bevor wir nach Melbourne umgezogen sind? Ich dachte, der wäre Buchhalter geworden.«
»Er hat umgeschult. Er war nicht schwermütig, nein, das war er nicht«, sagte Tess. War er nicht vielmehr supernett gewesen? Connor war der, der ihre Hände schön fand. Das fiel ihr plötzlich ein. Komisch. Sie hatte letzte Nacht an ihn denken müssen, und jetzt war er plötzlich wieder in ihrem Leben aufgetaucht.
»Doch, er war finster«, erklärte Felicity bestimmt. »Und er war wirklich alt.«
»Er war zehn Jahre älter als ich.«
»Egal, ich weiß nur, dass er irgendetwas Unheimliches an sich hatte. Und ich wette, er ist heute noch viel unheimlicher. Irgendwie haben alle Sportlehrer etwas Widerliches, mit ihren Trainingsanzügen, Trillerpfeifen und Klemmbrettern.«
Tess umklammerte den Hörer noch fester. Wie unverfroren selbstgefällig Felicity doch war! Immer meinte sie, alles besser zu wissen, andere am besten beurteilen zu können und gebildeter und süffisanter zu sein als Tess.
»Ich schätze mal, dass du damals nicht auch in Connor Whitby verliebt warst«, sagte sie bissig. »Will ist der Erste, der Gefallen an dir findet, nicht wahr?«
»Tess …«
»Schon gut.« Sie schnitt Felicity das Wort ab und spürte eine neue Welle voll Wut und Schmerz in ihr emporsteigen. Wie konnte das alles sein ? Sie liebte sie beide. Sie liebte sie beide so sehr. »Gibt es noch etwas?«
»Meinst du, ich könnte Liam Gute Nacht sagen?«, fragte Felicity mit dünner Stimme, die so gar nicht zu ihr passte.
»Nein. Der schläft schon.« Er schlief nicht. Sie war eben erst an seinem Schlafzimmer (dem alten Arbeitszimmer ihres Vaters) vorbeigegangen und hatte gesehen, dass Liam im Bett lag und noch ein wenig mit seinem Nintendo spielte.
»Bitte richte ihm liebe Grüße von mir aus«, sagte Felicity zittrig – eine schöne Frau, die unter schlimmsten Umständen, die sich ihrem Einfluss entzogen, tapfer kämpfte und ihr Bestes versuchte.
Und Liam vergötterte Felicity. Er hatte so ein trockenes, kleines Kichern, das nur für sie reserviert war.
Die Wut entlud sich, brach aus ihr heraus.
»Klar, ich richte es ihm aus«, fauchte Tess in den Hörer. »Und warum sollte ich ihm nicht auch noch gleich sagen, dass du dabei bist, seine Familie zu zerstören? Ja, warum eigentlich nicht?«
»Oh, Gott, Tess, es tut mir …«
»Sag bloß nicht, es tut dir leid! Untersteh dich, das noch einmal zu sagen! Du hast es dir so ausgesucht . Du hast es geschehen lassen. Du hast getan, was du getan hast. Du hast mir das alles angetan. Und du hast es Liam angetan.« Sie weinte jetzt hemmungslos, wie ein Kind, wiegte sich vor und zurück und hielt die Arme vor dem Bauch verschränkt.
»Wo bist du, Tess?« Ihre Mutter rief sie vom anderen Ende des Hauses.
Tess setzte sich augenblicklich aufrecht hin und wischte sich das tränennasse Gesicht mit der Handinnenseite ab. Sie wollte nicht, dass Lucy sie weinen sah. Es wäre unerträglich, wenn sie ihren eigenen Schmerz im Gesicht ihrer Mutter widergespiegelt sähe.
Sie stand auf. »Ich muss Schluss machen.«
»Ich …«
»Ist mir egal, ob du mit Will schläfst oder nicht«, sagte sie. »Und eigentlich denke ich, du solltest mit ihm schlafen. Krieg es aus dem Kopf! Aber ich werde nicht zulassen, dass Liam mit geschiedenen Eltern aufwächst. Du hast es selbst mitbekommen, damals, als sich Mum und Daddy haben scheiden lassen. Du weißt genau, wie das für mich war. Und deshalb kann ich nicht glauben, dass …«
Ein schneidender Schmerz in ihrer Brust machte sich bemerkbar, und Tess drückte fest mit der Hand auf die Stelle. Felicity schwieg.
»Du wirst nicht glücklich bis ans Ende deiner Tage mit Will zusammen sein«, sagte sie.
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