Die Wahrheit eines Augenblicks
irgendwelchen Privatuniversitäten weidlich in die Länge zogen. Abends ließen sie sich in den Kneipen im Ort volllaufen. »Wenn sich einer der Kingston-Buben je auch nur in die Nähe einer meiner Töchter wagt«, so sagte John-Paul immer, »dann komme ich mit der Flinte.«
Cecilia fuhr die Einfahrt hoch, öffnete mit der Fernbedienung das Garagentor und sah in den Rückspiegel. Der Taxifahrer hatte den Kofferraum aufspringen lassen, und ein breitschultriger Mann im Anzug holte sein Gepäck heraus.
Es war keiner der Kingston-Buben.
Es war John-Paul. Er wirkte stets ein wenig fremd auf Cecilia, wenn er so unerwartet in seiner Arbeitskleidung vor ihr stand. So, als wäre sie noch dreiundzwanzig und er längst aus ihrem Leben gegangen, gealtert und ergraut ohne sie.
John-Paul kam drei Tage früher als angekündigt nach Hause.
Sie freute und ärgerte sich gleichermaßen.
Damit war ihre Chance, heute Abend den Brief zu lesen, dahin. Sie schaltete die Zündung aus, zog die Handbremse und löste den Sicherheitsgurt. Dann öffnete sie die Autotür und lief John-Paul entgegen die Einfahrt hinunter.
13
Als das Telefon im Haus ihrer Mutter klingelte, nahm Tess den Hörer ab. »Hallo«, sagte sie verhalten und sah auf ihre Uhr.
Es war neun Uhr abends. Ein Werbeverkäufer würde wohl kaum zu so später Stunde anrufen.
»Ich bin’s.«
Es war Felicity. Tess’ Bauch krampfte sich zusammen. Felicity hatte den ganzen Tag versucht, sie auf dem Handy zu erreichen, hatte Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen und jede Menge SMS geschrieben, die Tess allesamt weder abgehört noch gelesen hatte. Es fühlte sich seltsam an, Felicity zu ignorieren, so als wollte sie sich zwingen, etwas Unnatürliches zu tun.
»Ich will nicht mit dir sprechen.«
»Es ist nichts passiert«, murmelte Felicity. »Wir haben nach wie vor nicht miteinander geschlafen.«
»Herrgott, was du nicht sagst!« Zu ihrer Überraschung musste Tess lachen. Es war nicht einmal ein bitteres Lachen. Das Ganze war einfach lächerlich. »Wozu die Warterei?«
Doch dann sah sie ihr Gesicht im Spiegel, der über dem Tisch im Esszimmer hing, und konnte zusehen, wie sich ihre Miene verdüsterte, so wie bei jemandem, der auf einen faulen Trick hereingefallen war.
»Wir können an nichts anderes denken als an dich«, sagte Felicity. »Und an Liam. Die Website der Firma ist zusammengebrochen … Egal, ich will nicht über die Arbeit sprechen. Ich bin in meiner Wohnung. Will ist bei sich zu Hause. Er sieht aus wie ein Wrack.«
»Mach dich nicht lächerlich!« Tess’ Stimme zitterte. Sie wandte sich von ihrem Spiegelbild ab. »Ihr seid beide lächerlich.«
»Ich weiß«, antwortete Felicity so leise, dass Tess den Hörer fest an ihr Ohr drücken musste, um sie zu verstehen. »Ich bin ein Miststück. Eine von den Frauen, die wir hassen.«
Tess schnaubte gereizt. »Sprich lauter!«
»Ich sagte, ich bin ein Miststück!«
»Erwarte bloß nicht, dass ich mich jetzt mit dir herumstreite!«
»Nein, das erwarte ich nicht«, sagte Felicity. »Natürlich nicht.«
Stille.
»Du willst, dass ich mich damit abfinde, nicht wahr? Du willst, dass ich mitspiele und alles irgendwie läuft.« Tess kannte ihre Cousine in- und auswendig.
Das war immer Tess’ Rolle in dieser Dreierbeziehung gewesen. Will und Felicity waren die, die Chaos verbreiteten, die vor einem Kunden aufbrausten, sich von einem Fremden aus dem Konzept bringen ließen, die im Auto auf das Lenkrad hauten und brüllten: »Willst du mich verarschen?« Und dann war es Tess’ Aufgabe, die Wogen zu glätten und alle wieder heiter zu stimmen. Tess, die Friedenstifterin. Wie hatten die beiden ohne ihre Hilfe eine Affäre beginnen können? Sie brauchten sie doch immer. Und nun brauchten sie eine Tess, die ihnen sagte: Alles in Ordnung! Es ist nicht eure Schuld! Entspannt euch, legt euch ins Bett und habt Sex! Nun macht schon! Seht ihr, schon fühlt ihr euch besser, nicht wahr?
»Nein, das will ich nicht«, sagte Felicity. »Ich will gar nichts von dir. Geht es dir gut? Geht es Liam gut?«
»Uns geht es gut.« Mit einem Male spürte Tess eine erdrückende Müdigkeit und gleichzeitig ein geradezu träumerisches Gefühl der Abgeklärtheit. Diese gewaltigen Gefühlsausbrüche waren anstrengend. Sie zog sich einen der Esszimmerstühle heran und setzte sich. »Liam beginnt morgen auf der St.-Angela-Schule.« Da siehst du mal, wie gut ich mit meinem Leben zurechtkomme !
»Morgen? Wieso schon
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