Die Wahrheit eines Augenblicks
»Und das weißt du, nicht wahr? Denn ich werde es aussitzen und abwarten. Ich werde warten, bis du mit ihm durch bist.« Tess holte tief Luft, zitterte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Lebt sie aus, eure ekelhafte, kleine Affäre, und dann gib mir meinen Mann zurück!«
7. Oktober 1977: Bei Zusammenstößen der DDR -Volkspolizei mit Protestanten, die in scharfen Sprechchören forderten: »Nieder mit der Mauer!«, wurden drei Teenager getötet. Lucy O’Leary, schwanger mit ihrem ersten Kind, sah den Bericht darüber in den Nachrichten und konnte nicht aufhören zu weinen. Mary, die ebenfalls mit ihrem ersten Kind schwanger war, rief sie tags darauf an und wollte wissen, ob sie die Nachrichten gesehen habe und auch habe weinen müssen. Sie unterhielten sich zuerst über all die Tragödien, die in der Welt gerade passierten, und wandten sich dann dem weit interessanteren Gesprächsthema zu, ihren Babys.
»Ich glaube, wir kriegen Buben«, sagte Mary. »Und die werden beste Freunde.«
»Wahrscheinlicher ist, dass sie sich gegenseitig umbringen wollen.«
14
Rachel saß in der dampfend heißen Badewanne und drückte sich seitlich gegen den Wannenrand. In ihrem Kopf drehte sich alles. Eine dumme Idee, sich in die Badewanne zu legen, wo sie sich von der Tupper-Party noch immer leicht beschwipst fühlte. Sie würde beim Aussteigen wahrscheinlich ausrutschen und sich den Oberschenkelhals brechen.
Vielleicht war das eine ganz gute Strategie. Rob und Lauren würden ihre Reise nach New York abblasen und in Sydney bleiben, um sich um sie zu kümmern. Lucy O’Leary hatte ja auch ihren Knöchel gebrochen. Und ihre Tochter kam aus Melbourne, um nach ihr zu sehen, kaum dass sie davon gehört hatte. Tess hatte sogar ihren Jungen aus der Schule in Melbourne genommen, was jetzt, da Rachel es recht überlegte, ein bisschen voreilig schien.
Und da sie gerade an die O’Learys denken musste, fiel ihr auch Connor Whitby ein und der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er Tess gesehen hatte. Rachel fragte sich, ob sie Lucy warnen sollte. »Achtung, Connor Whitby könnte ein Mörder sein.«
Oder auch nicht. Er könnte auch einfach ein total netter Sportlehrer sein.
Manchmal, wenn Rachel ihn mit den Kindern sah, draußen auf dem Sportplatz, in der Sonne, die Trillerpfeife um den Hals, und beobachtete, wie er in einen roten Apfel biss, dann dachte sie: Niemals, im Himmel und auf Erden nicht, könnte dieser Mann Janie wehgetan haben! Und dann wieder, an anderen, trübgrauen Tagen, wenn sie ihn sah, wie er allein umherging, das Gesicht ungerührt, die Schultern breit genug, um zu töten, dann sagte sie in Gedanken zu ihm: Du weißt, was mit meiner Tochter passiert ist.
Sie lehnte den Kopf nach hinten gegen die Badewanne, schloss die Augen und erinnerte sich an das erste Mal, da sie von seiner Existenz erfahren hatte. Sergeant Bellach hatte ihr erzählt, dass die letzte Person, die Janie lebend gesehen hatte, ein Junge namens Connor Whitby sei. Er besuche wie Janie die hiesige Schule, und Rachel hatte gedacht: Aber das kann nicht sein, ich habe nie von ihm gehört. Sie kannte alle Freunde ihrer Tochter und auch deren Mütter.
Ed hatte Janie verboten, einen festen Freund zu haben, bevor sie nicht ihre allerletzte Prüfung an der Oberschule geschafft hatte. Wie albern von ihm! Als wäre ein fester Freund etwas, das man verbieten könnte. Doch Janie hatte gar nicht protestiert; daraus hatte Rachel ganz unbekümmert geschlossen, dass sie sich aus Jungs noch gar nicht so viel machte.
Das erste Mal, da sie und Ed Connor getroffen hatten, war auf Janies Beerdigung. Er schüttelte Ed die Hand und drückte seine kalte, weiße Wange an Rachels. Connor war Teil des Albtraums, so unwirklich und abwegig wie der Sarg. Monate später hatte Rachel ein Foto gefunden, das die beiden zusammen auf einer Party zeigte. Er lachte über irgendetwas, das Janie wohl gerade gesagt hatte.
Und dann, viele Jahre später, hatte er die Stelle in der St.-Angela-Schule bekommen. Rachel hatte ihn nicht einmal erkannt, bis sie seinen Namen auf dem Bewerbungsschreiben gesehen hatte.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern, Mrs. Crowley«, sagte er zu ihr, als sie einmal zusammen allein im Büro waren, kurz nachdem er die Stelle angetreten hatte.
»Ja, ich erinnere mich«, entgegnete sie eisig.
»Ich denke noch oft an Janie«, gestand er. »Die ganze Zeit.«
Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Warum denkst du an sie?
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