Die Wahrheit eines Augenblicks
Weil sie ermordet wurde?
In seinen Augen stand definitiv so etwas wie Schuld. Das hatte sie sich nicht eingebildet. Sie arbeitete schon seit fünfzehn Jahren als Schulsekretärin. Und Connor hatte wie ein Schuljunge gewirkt, den man zum Rektor zitiert hatte. Aber hatte er Schuldgefühle wegen eines Mordes? Oder wegen etwas anderem?
»Ich hoffe, es ist Ihnen nicht unangenehm, wenn ich jetzt hier arbeite«, hatte er hinzugefügt.
»Vollkommen in Ordnung«, hatte sie kurz angebunden erwidert. Und das war das letzte Mal, dass sie darauf zu sprechen gekommen waren.
Sie hatte sich sogar überlegt zu kündigen. An Janies alter Schule zu arbeiten hatte schon immer etwas Bittersüßes gehabt. Kleine Mädchen mit dürren, fohlenhaften Beinen rannten auf dem Schulhof an Rachel vorbei, und immer erhaschte sie dabei ein flüchtiges Bild auf Janie. An heißen Sommertagen sah sie Mütter, die ihre Kinder abholten, und sie musste daran denken, wie sie einst Janie und Rob abgeholt hatte: an ihre geröteten, kleinen Gesichter. Janie war ein Teenager, als sie starb, und Rachels Erinnerungen an ihre Schulzeit in St. Angela waren durch den Mord an ihr nicht getrübt oder gar verschüttet. Doch dann tauchte Connor Whitby auf und durchschritt ihre leisen, dunklen Erinnerungen.
Am Ende blieb sie; sie hatte sich ihrem störrischen Gemüt widersetzt. Sie liebte ihre Arbeit. Wieso sollte sie diejenige sein, die ging? Zudem fühlte sie sich Janie auf eigenartige Weise verpflichtet und glaubte, es ihr schuldig zu sein, zu bleiben, nicht wegzulaufen, sich diesem Mann zu stellen, jeden Tag, ganz egal, was er getan hatte.
Wenn er Janie ermordet hatte, hätte er dann eine Stelle an der Schule angenommen, an der ihre Mutter arbeitete? Hätte er dann gesagt: »Ich denke noch oft an Janie«?
Rachel öffnete die Augen und spürte diesen harten Zorneskloß, der sich irgendwo weit hinten in ihrer Kehle eingenistet hatte, als hätte sie sich an irgendetwas verschluckt. Es war die Ungewissheit. Diese beschissene Ungewissheit.
Sie ließ etwas kaltes Wasser in die Wanne ein.
»Es ist die Ungewissheit«, hatte eine zierliche, kultivierte Frau in der Selbsthilfegruppe für Angehörige von Mordopfern gesagt, zu der sie und Ed ein paar Mal gegangen waren und auf Klappstühlen gesessen hatten, Styroporbecher mit Pulverkaffee in der zittrigen Hand. Es war in einer kalten Gemeindehalle irgendwo in Chatswood gewesen. Der Sohn dieser Frau war auf dem Nachhauseweg vom Kricket-Training ermordet worden. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen. »Diese verdammte Ungewissheit!«
Ein flüchtiges Blinzeln ging durch den Stuhlkreis. Die Frau hatte eine süße, kristallklare Stimme; es war, als hörte man eine Königin fluchen.
»So ungern ich Ihnen das sage, meine Liebe, aber Gewissheit hilft auch nicht viel.« Ein untersetzter, rotgesichtiger Mann unterbrach sie. Seine Tochter war ermordet worden von einem Mann, der dafür »lebenslänglich« bekommen hatte.
Rachel und Ed entwickelten beide eine heftige Abneigung gegen diesen rotgesichtigen Mann und gingen schließlich seinetwegen nicht mehr zu den Treffen der Selbsthilfegruppe.
Man denkt immer, man ginge aus den Tragödien des Lebens weiser und gestärkter hervor, man würde automatisch auf eine höhere, spirituelle Ebene gehoben, doch Rachel schien es eher so, als wäre das Gegenteil der Fall. Tragödien machen einen engherzig und gehässig. Sie bescheren einem keine großartigen Erkenntnisse oder Einsichten. Rachel verstand nicht das geringste bisschen vom Leben, außer dass es willkürlich und grausam war und dass manche Menschen mit einem Mord davonkommen, während andere aus Leichtsinn nur einen winzig kleinen Fehler begehen und dafür einen schrecklichen Preis zahlen müssen.
Sie hob einen Waschlappen unter den kalten Wasserhahn, faltete ihn zusammen und legte ihn sich auf die Stirn, als wäre sie eine Fieberpatientin.
Sieben Minuten. Ihr Fehler ließ sich in Minuten bemessen.
Marla war die Einzige, die das wusste. Ed hatte es nie erfahren.
Janie hatte geklagt, dass sie sich ständig müde fühlte. »Treib mehr Sport!«, hatte Rachel ihr immer wieder geraten. »Geh nicht so spät ins Bett! Iss mehr!« Janie war spindeldürr und groß. Und dann begann sie, über einen vagen Schmerz im unteren Rücken zu jammern. »Mum, ich glaube ernsthaft, ich habe Drüsenfieber.«
Rachel vereinbarte für sie einen Termin bei Dr. Buckley, aber sie hätte ihr auch sagen können, dass sie nicht krank war, dass sie
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