Die Wahrheit eines Augenblicks
Miene hellte sich auf. »Ich habe Rob und Lauren versprochen, auf Jacob aufzupassen, während sie Termine mit Immobilienmaklern haben. Sie wollen ja ihr Haus vermieten, solange sie in New York sind. Da springe ich natürlich ein.«
Cecilia hielt vor einem Bungalow aus rotem Backstein, der ziemlich so aussah wie ihr Elternhaus. Rachel schien jedes Licht im Haus brennen gelassen zu haben.
»Danke vielmals, dass du mich mitgenommen hast.« Rachel kletterte aus dem Wagen und machte dabei zuerst im Sitzen eine vorsichtige Seitwärtsdrehung. Genau so stieg auch Cecilias Mutter immer aus.
»Ich schicke dir eine Einladung in die Schule!«, rief Cecilia ihr nach, beugte sich dabei in Richtung Beifahrertür und fragte sich, ob sie Rachel anbieten sollte, sie bis zur Haustür zu begleiten. Ihre eigene Mutter wäre beleidigt, wenn sie es nicht täte. Und auch John-Pauls Mutter wäre eingeschnappt.
»Schön«, meinte Rachel und marschierte schnurstracks davon, als hätte sie Cecilias Gedanken gelesen und wollte sich selbst beweisen, dass sie noch lange nicht zum alten Eisen gehörte.
Cecilia wendete in der Sackgasse den Wagen, und als sie wieder am Haus vorbeifuhr, war Rachel bereits im Inneren verschwunden.
Cecilia spähte in die Dunkelheit und versuchte, hinter einem der Fenster Rachels Silhouette zu entdecken, aber da war nichts. Was sie wohl gerade macht?, überlegte Cecilia. Und wie es sich wohl anfühlt, so allein in einem Haus zu sein, umgeben vom Geist seiner Tochter und dem seines Ehemannes?
Gut. Sie fühlte sich ein wenig außer Atem, als hätte sie gerade eine kleine Berühmtheit heimgefahren. Und sie hatte mit ihr über Janie gesprochen! Ist eigentlich ganz gut gelaufen, dachte sie. Sie hatte Rachel ein Stück Erinnerung geschenkt, ganz so, wie sie es in dieser Fernsehsendung gehört hatte. Cecilia verspürte ein wohliges Gefühl der Zufriedenheit, ein gutes Werk vollbracht zu haben, indem sie schließlich und endlich eine lange aufgeschobene Aufgabe erledigt hatte. Andererseits aber schämte sie sich, weil sie sich im Zusammenhang mit Rachels Tragödie irgendwie stolz fühlte, ja sich sogar freute.
An der Ampel hielt sie an und musste an den wutschnaubenden LKW -Fahrer vom Nachmittag denken. Und da kamen ihr wieder die Gedanken an ihr eigenes Leben in den Sinn. All das hatte sie eben ganz vergessen, als sie Rachel nach Hause gefahren hatte: diese merkwürdigen Dinge, die Polly und Esther heute im Auto über John-Paul gesagt hatten; ihren eigenen Entschluss, seinen Brief heute Abend zu öffnen.
Hatte sie jetzt noch immer das Gefühl, ein Recht dazu zu haben?
Der Rest des Nachmittags war ohne weitere Besonderheiten verlaufen. Von ihren Töchtern waren keine weiteren merkwürdigen Enthüllungen gekommen, und auch Isabel war nach dem Friseurbesuch besonders fröhlich und redselig gewesen. Sie hatte jetzt eine flotte Kurzhaarfrisur, und ihrer Körperhaltung nach zu urteilen, fand sie sich damit selbst wohl sehr mondän, wenngleich sie damit jünger und richtig süß wirkte.
Am Morgen hatte im Briefkasten eine Karte von John-Paul an die Mädchen gelegen. Es war eine liebe und lustige Gewohnheit von ihm, ihnen von unterwegs immer die verrücktesten Postkarten zu schicken, die er finden konnte. Auf der von heute Morgen war ein Hund mit faltiger Haut zu sehen, der ein Diadem auf dem Kopf trug und mit Glasperlenketten behangen war. Cecilia fand die Karte ziemlich albern; die Mädchen jedoch hatten sich erwartungsgemäß vor Lachen ausgeschüttet und die Karte gleich an den Kühlschrank gehängt.
»He, Mann!«, murmelte sie vor sich hin, als plötzlich ein Auto knapp vor ihr auf ihre Spur zog. Sie hatte schon die Hand gehoben, um sie auf die Hupe niedersausen zu lassen, ließ es dann aber sein.
Na, geht doch. Ich habe mal nicht gebrüllt und gezetert wie eine Wahnsinnige , stellte sie mit einem versöhnlichen Gedanken an diesen cholerischen LKW -Fahrer vom Nachmittag fest. Es war ein Taxi, das sich da vor sie gedrängelt hatte. Und der Fahrer schien alle naselang auf die Bremse zu treten.
Na, großartig. Ruckartig fuhr der Wagen vor ihr her, bog in die Straße, in der sie wohnte, und stoppte abrupt und ohne Vorwarnung direkt vor Cecilias Haus.
Die Innenbeleuchtung flammte auf. Der Fahrgast saß auf dem Beifahrersitz. Einer von den Kingston-Buben, dachte Cecilia. Die Kingstons bewohnten das Haus gegenüber, hatten drei Söhne, allesamt über zwanzig, die noch daheim wohnten und ihre teuren Ausbildungen auf
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