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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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nur all die Ratschläge ihrer Mutter zu beherzigen brauchte.
    Janie nahm normalerweise den Bus und ging dann von der Bushaltestelle an der Wycombe Road zu Fuß nach Hause. An jenem Tag hatten sie ausgemacht, dass Rachel sie an der Ecke vor der Schule aufgabeln und gleich nach Schulschluss zur Praxis von Dr. Buckley in Gordon fahren würde. Am Morgen noch hatte sie Janie an diese Absprache erinnert.
    Nur hatte Rachel sieben Minuten Verspätung, und als sie an der Ecke ankam, war von Janie nichts zu sehen. Sie hat es vergessen, dachte Rachel und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Oder sie hat es sattgehabt zu warten. Das Kind war ja so ungeduldig, benahm sich, als wären Rachel und ihr Wagen eine Art öffentliches Verkehrsmittel mit Pünktlichkeitspflicht. Es gab damals noch keine Handys. Es gab nichts, was Rachel hätte tun können, außer im Auto zu sitzen und weitere zehn Minuten zu warten (sie hasste es ebenfalls, wenn sie warten musste), bis sie schließlich zurück nach Hause fuhr und in der Praxis von Dr. Buckley anrief, um den Termin abzusagen.
    Sorgen machte sie sich zu diesem Zeitpunkt noch keine, gar keine. Sie war verärgert. Vor allem, weil sie wusste, dass Janie eigentlich kerngesund war. Es war typisch, dass Rachel sich die Mühe machte, einen Arzttermin zu vereinbaren, und Janie dann alles schleifen ließ. Erst später, als Rob mit einem halben Sandwich im Mund fragte: »Wo ist eigentlich Janie?«, sah Rachel auf die Küchenuhr. Und da beschlich sie ein Gefühl von eiskalter, lähmender Angst.
    Niemand hatte Janie in diesen sieben Minuten an der Ecke stehen und warten sehen. Und wenn, dann hatte keiner es gesagt. Deshalb konnte Rachel nie mit Sicherheit wissen, ob Janie tatsächlich an der verabredeten Stelle gewartet hatte oder nicht. Sie würde nie wissen, inwieweit diese sieben Minuten tatsächlich relevant gewesen waren.
    Wie Rachel schließlich aus den polizeilichen Ermittlungen erfahren hatte, war Janie gegen halb vier bei Connor Whitby zu Hause aufgetaucht. Die beiden hatten sich zusammen einen Video-Film angesehen ( Warum eigentlich … bringen wir den Chef nicht um ? Mit Dolly Parton), bis Janie sagte, sie »müsse noch etwas in Chatswood erledigen« und Connor Whitby sie dann zum Bahnhof begleitete.
    Niemand sonst hatte sie danach noch lebend gesehen. Niemand erinnerte sich, ihr im Zug oder irgendwo in Chatswood begegnet zu sein.
    Am folgenden Morgen wurde ihre Leiche von zwei neun Jahre alten Jungen gefunden, die auf ihren BMX -Rädern durch den Wattle Valley Park fuhren. Sie hielten am Spielplatz an und sahen sie am unteren Ende der Rutsche liegen. Die Schuluniformjacke war über ihr wie eine Decke ausgebreitet, wie um sie in der Kälte warm zu halten, und in den Händen hielt sie ein paar Perlen eines Rosenkranzes. Irgendjemand hatte sie mit bloßen Händen erwürgt. »Traumatischer Erstickungstod« lautete die offizielle Todesursache. Keine Anzeichen für einen Kampf. Nichts, was sich unter ihren Fingernägeln hervorkratzen ließe. Keine brauchbaren Fingerabdrücke. Keine Haare. Keine DNA -Spuren – Rachel hatte sich extra danach erkundigt, da sie über Fälle gelesen hatte, die in den späten Neunzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts durch DNA -Analysen aufgeklärt werden konnten. Keine Verdächtigen.
    »Aber wohin wollte sie denn?«, hatte Ed sie immer und immer wieder gefragt, als würde Rachel die Antwort darauf irgendwann wieder einfallen, wenn er nur beharrlich genug nachhakte. »Wieso ist sie durch den Park gegangen?«
    Manchmal, wenn er sie immer und immer wieder gefragt hatte, fing er schließlich vor lauter Zorn und Kummer an zu schluchzen. Rachel konnte es nicht ertragen. Sie wollte mit seiner Trauer und seinem Leid nichts zu tun haben. Sie wollte nichts davon wissen, spüren oder teilen. Ihr eigener Schmerz war schlimm genug. Wie sollte sie da noch seinen mittragen?
    Heute fragte sie sich, wieso sie es nicht geschafft hatten, sich einander zuzuwenden, um ihre Trauer miteinander zu teilen. Sie hatten einander geliebt, das wusste sie, doch als Janie starb, hatte keiner von ihnen die Tränen des anderen ertragen können. Sie klammerten sich aneinander, so wie Fremde das tun, wenn eine Naturkatastrophe über sie hereinbricht, klopften sich unbeholfen und mit steifen Körpern gegenseitig auf die Schulter. Und der arme kleine Rob stand dazwischen, ein pubertierender Junge, der alles richtig zu machen versuchte, angestrengt lächelte und gespielt heiter war. Kein

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