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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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gedacht, als ihre Eltern sich getrennt hatten. Habe ich gar nichts mitzureden? Zehn Jahre lang hatte sie geglaubt, der Mittelpunkt der Welt ihrer Eltern zu sein, und hatte dann feststellen müssen, dass sie keinerlei Mitspracherecht hatte. Keinerlei Einfluss.)
    Für Kinder gibt es keine gute Scheidung. Das hatte Tess irgendwo gelesen, kurz bevor dies alles passiert war. Auch wenn eine Trennung vollkommen friedlich verläuft und beide Eltern allergrößte Anstrengungen unternehmen, die Kinder leiden immer.
    Tess warf die Bettdecke zurück und stand auf. Sie musste raus, irgendwohin, fort von ihren Gedanken. Will. Felicity. Liam. Will. Felicity. Liam …
    Sie würde sich ins Auto ihrer Mutter setzen und einfach drauflosfahren. Zweifelnd sah Tess an ihrem gestreiften Schlafanzug hinunter. Sollte sie sich nicht besser anziehen? Aber sie würde ja im Auto sitzen bleiben und gar nicht aussteigen. Sie schlüpfte in ein paar flache Schuhe und schlich sich aus dem Zimmer und über den Flur. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Im Haus war es still. Sie knipste das Licht im Esszimmer an und schrieb ihrer Mutter eine kleine Notiz, für den Fall, dass sie aufwachte.
    Bin gleich wieder da – drehe nur eine kleine Runde mit dem Auto um den Block. Tess.
    Sie steckte ihren Geldbeutel ein, nahm die Autoschlüssel vom Haken neben der Haustür und schlich sich hinaus in die laue Nacht. Ganz tief atmete sie die süßlich duftende Luft ein.
    Tess fuhr im Honda ihrer Mutter den Pacific Highway hinunter; die Fenster hatte sie heruntergekurbelt. Die Straße an Sydneys Nordufer lag ruhig und verlassen da. Ein Mann mit einer Aktentasche unter dem Arm, der wohl gerade von der Nachtschicht kam und mit dem Spätzug gekommen sein musste, eilte den Fußweg entlang.
    Eine Frau würde um diese nachtschlafende Zeit wohl kaum allein vom Bahnhof nach Hause laufen. Tess musste daran denken, wie Will ihr einmal erzählt hatte, dass er es hasste, nachts hinter einer Frau herzugehen. Er fürchtete dann, dass sie ihn für einen Mörder halten könnte, wenn sie seine Schritte hörte. »Ich will in solchen Momenten immer rufen: ›Alles in Ordnung – ich bin kein Mörder!‹«, hatte er gesagt.
    »Ich würde um mein Leben rennen, wenn mir jemand so etwas zurufen würde«, hatte Tess geantwortet.
    »Siehst du, als Mann hat man da gar keine Chance«, hatte Will gesagt.
    Immer wenn am Nordufer etwas Schlimmes passierte, schrieben die Zeitungen von Sydneys düsterer Nordküste , damit es umso schauriger klang.
    An der Ampel hielt Tess an und sah das rote Warnlicht für die Benzinreserve aufleuchten.
    »Mist, verdammter!«
    An der nächsten Ecke gab es eine hell erleuchtete Tankstelle mit Vierundzwanzig-Stunden-Service. Dort würde sie kurz anhalten. Tess bog in die Tankstelle ein, stellte den Motor ab und stieg aus. Bis auf einen Motorradfahrer auf der anderen Seite der Zapfsäule war niemand zu sehen. Er hatte bereits getankt und war gerade dabei, seinen Helm wieder aufzusetzen.
    Tess zog den Tankdeckel ab und nahm die Zapfpistole aus der Halterung der Säule.
    »Hallo«, erklang eine Männerstimme.
    Tess zuckte zusammen und fuhr herum. Der Mann hatte sein Motorrad herangeschoben und stand nun auf der anderen Seite ihres Autos. Er öffnete das Visier seines Helms. Die grellen Lichter der Tankstelle blendeten Tess, und sie konnte die Gesichtszüge des Mannes nicht genau erkennen. Alles was sie sah, war ein unheimlicher weißer Fleck von einem Gesicht.
    Ihre Augen wanderten zur unbesetzten Kassentheke im leeren Ladenraum. Wo war der verdammte Kassenwart? Tess legte schützend einen Arm über ihre Brust. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie keinen BH unter dem Schlafanzug trug. Unwillkürlich kam ihr eine Oprah-Winfrey-Show in den Sinn, die sie einmal zusammen mit Felicity gesehen hatte. Ein Polizist hatte Frauen Verhaltenstipps gegeben für den Fall, dass sie einmal belästigt wurden. Man solle extrem aggressiv reagieren und sich lautstark zur Wehr setzen, hatte er gesagt. Nein, hau ab! Lass mich in Ruhe! Hau ab, du Mistkerl! Eine Zeit lang hatten Tess und Felicity sich einen Spaß daraus gemacht und Will diese Sätze entgegengeschleudert, wann immer er zu ihnen ins Zimmer gekommen war.
    Tess räusperte sich und ballte die Hände zu Fäusten wie in ihrem Selbstverteidigungskurs. Hätte ich bloß einen BH an, dachte sie, dann wäre es viel leichter, aggressiv zu reagieren!
    »Tess«, sagte der Mann. »Ich bin’s, Connor. Connor

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