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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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viel zu nah an der Kamera«, erklang da plötzlich eine männliche Stimme.
    Rachel zog die Hand weg.
    Janie war wieder zu sehen. Sie trug hüfthohe Jeans mit einem silbernen Gürtel, dazu ein langärmliges lilafarbenes Oberteil. Rachel erinnerte sich daran, wie sie dieses Shirt gebügelt hatte. Die Ärmel hatten ihr einiges abverlangt, da sie komplizierte Plisseefalten hatten.
    Janie war wahrhaft schön, wie ein zarter Vogel, ein Reiher vielleicht … Aber du liebe Güte, war das Kind wirklich so dünn gewesen? Die Arme und Beine des Mädchens auf dem Bildschirm waren spindeldürr! Hatte irgendetwas mit Janie nicht gestimmt? Litt sie gar unter Magersucht? Wie konnte es sein, dass Rachel das nicht bemerkt hatte?
    Janie saß auf der Kante eines Single-Bettes. Sie befand sich in einem Raum, den Rachel nie gesehen hatte. Die Bettwäsche war rot-blau gestreift. Die Wände dahinter waren dunkelbraun getäfelt. Janie senkte das Kinn und sah mit einem gespielt ernsten Gesicht von unten hoch in die Kamera, während sie einen Bleistift vor ihren Mund hob, als wäre er ein Mikrofon.
    Rachel lachte laut auf. Auch das hatte sie ganz vergessen. Janie hatte es geliebt, in den passendsten und unpassendsten Momenten Reporter zu spielen. Sie kam beispielsweise in die Küche, schnappte sich eine Karotte und sagte: »Erzählen Sie mal, Mrs. Rachel Crowley, wie war Ihr Tag heute? Gewöhnlich? Ungewöhnlich?« Und dann streckte sie ihrer Mutter die Karotte vor die Nase, und Rachel sprach hinein: »Gewöhnlich.«
    Gewöhnlich – ja, natürlich war ihre Antwort auf diese Frage so ausgefallen. Ihre Tage waren immer hundsgewöhnlich gewesen.
    »Guten Abend, ich bin Janie Crowley live aus Turramurra, wo ich gerade ein Interview führe mit einem zurückgezogen lebenden jungen Mann namens Connor Whitby.«
    Rachel stockte der Atem. Sie drehte den Kopf. Ed  … Das Wort blieb ihr im Halse stecken. Ed. Komm! Sieh dir das an ! Es war Jahre her, seit sie ihn gerufen hatte.
    Janie sprach wieder in den Bleistift. »Wenn Sie ein klein wenig näher rücken würden, Mr. Whitby, damit meine Zuschauer Sie auch sehen können …«
    »Janie.«
    »Connor.« Janie äffte seinen Tonfall nach.
    Ein breitschultriger, dunkelhaariger Junge in einem gelb-blau gestreiften Rugby-Shirt und Shorts rutschte auf dem Bett heran, bis er neben Janie saß. Er blickte in die Kamera, sah wieder weg und fühlte sich sichtlich unbehaglich, als könnte er Janies Mutter sehen, wie sie viele Jahre später dasaß und ihnen zuschaute.
    Connor hatte den Körper eines Mannes und das Gesicht eines Jungen. Rachel bemerkte, dass seine Stirn von Pickeln übersät war. Er hatte diesen verlorenen, bangen, mürrischen Blick, der so typisch war für Teenager dieses Alters, die aggressiv und schmusebedürftig zugleich wirkten. Der Connor von damals fühlte sich offenbar nicht so wohl in seinem Körper wie der Connor von heute. Er wusste nicht so recht, wohin mit seinen Gliedmaßen. Er schlenkerte mit den Beinen und streckte sie aus und trommelte mit der flachen Rechten leicht auf der geschlossenen Faust der linken Hand herum.
    Rachel hörte sich selbst abgehackt und keuchend atmen. Am liebsten wäre sie in den Fernseher hineingesprungen und hätte Janie herausgezerrt. Was hatte sie dort zu suchen? Sie musste in Connors Schlafzimmer sein. Sie durfte das gar nicht. Sie durfte nicht allein im Schlafzimmer eines Jungen sein. Ed wäre ausgerastet.
    Janie Crowley, mein junges Fräulein, du kommst augenblicklich nach Hause.
    »Wieso willst du mich denn überhaupt mit drauf haben?«, fragte Connor und blickte wieder in die Kamera. »Kann ich nicht einfach abseits sitzen bleiben?«
    »Du kannst dein Interview nicht geben, wenn du nicht im Bild bist«, sagte Janie. »Kann sein, dass ich dieses Band noch brauche, wenn ich mich für einen Job als Fernseh-Reporterin bewerbe.« Sie lächelte ihn an, und er lächelte zurück: ein unfreiwilliges, verknalltes Lächeln.
    Verknallt – das war das richtige Wort. Der Junge war verknallt in ihre Tochter. »Wir sind nur gute Freunde«, hatte er bei der Polizei ausgesagt. »Sie war nicht meine Freundin.«
    »Ich kenne alle ihre Freunde«, hatte Rachel damals der Polizei erzählt. »Ich kenne auch deren Mütter.«
    »Also, Connor, dann erzähle doch ein bisschen über dich selbst!« Janie streckte ihm den Bleistift hin.
    »Was willst du denn wissen?«
    »Nun, zum Beispiel, ob du eine Freundin hast?«
    »Weiß nicht«, sagte Connor. Er schaute Janie

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