Die Wahrheit eines Augenblicks
seid ihr, du und Felicity, dann genauso geworden wie Mary und ich, wie Zwillinge. Schlimmer als Zwillinge sogar. Ich frage mich oft, wie du wohl geworden wärst, wenn du sie nicht ständig im Nacken gehabt hättest, was für Freunde du wohl gefunden hättest.«
»Freunde? Ich hätte keine anderen Freunde gefunden! Dazu war ich viel zu schüchtern! Ich war so schüchtern, dass ich praktisch unfähig war. Und auch heute bin ich noch irgendwie sozial behindert.« Sie zwang sich, ihrer Mutter nicht auch noch den Rest ihrer Selbstdiagnose zu präsentieren.
»Felicity hat dich verschüchtert«, erwiderte Lucy. »Das kam ihr zupass. So schüchtern warst du nämlich gar nicht.«
Tess rieb den Nacken in ihrem Kissen hin und her. Es war so schwer; sie vermisste ihr eigenes Kopfkissen von zu Hause in Melbourne. Hatte ihre Mutter recht mit dem, was sie gesagt hatte? Hatte sie, Tess, den Großteil ihres Lebens in einer gestörten Beziehung mit ihrer Cousine verbracht?
Sie dachte an jenen schrecklichen, seltsamen, heißen Sommer, als die Ehe ihrer Eltern zerbrochen war. Es war, als erinnerte sie sich an eine lange Krankheit. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt. Gewiss, ihre Eltern machten sich gegenseitig das Leben schwer; sie waren grundverschieden. Aber es waren ihre Mum und ihr Daddy. Jede ihrer Freundinnen hatte eine Mum und einen Daddy, die miteinander im selben Haus wohnten. Ihr Freundes- und Familienkreis war zu klein, zu spießig, zu katholisch. Tess kannte das Wort »Scheidung«, doch das war wie das Wort »Erdbeben«. Etwas, das immer nur den anderen widerfuhr. Aber fünf Minuten nach der seltsamen, gestelzten kleinen Bekanntgabe ihrer Eltern warf ihr Vater seine Klamotten in den Koffer, den sie immer für die Ferien packten, und zog in eine muffige, möblierte Wohnung, die vollstand mit dünnbeinigen, altbackenen Möbeln.
Ihre Mutter trug acht Tage lang ununterbrochen dasselbe alte, schlabbrige Kleid, ging im Haus umher, lachte, weinte oder brummelte: »Drei Kreuze, dass er weg ist!«
Tess war damals zehn. Felicity war es, die sie damals durch den Sommer brachte. Sie nahm sie mit ins Schwimmbad und lag, solange Tess wollte, neben ihr auf dem harten Betonboden am Beckenrand (obwohl Felicity mit ihrer schönen weißen Haut es hasste, in der Sonne zu brutzeln). Felicity war es auch, die Tess von ihrem Taschengeld eine Greatest-Hits-Platte kaufte, nur um ihr eine Freude zu machen, die ihr becherweise Eis mit Schokoladenguss spendierte, wenn sie mal wieder auf dem Sofa saß und sich die Augen aus dem Kopf weinte.
Später war es auch Felicity, die als Erste erfuhr, dass Tess ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, der sie von ihrem ersten Liebeskummer erzählte und der sie es anvertraute, als Will ihr seine Liebe gestand. Felicity war es, die sie anrief, als er ihr den Heiratsantrag machte, als ihre Fruchtblase platzte und als Liam auf seinen stämmigen Beinchen die ersten Schritte unternahm.
Felicity und Tess hatten immer alles miteinander geteilt: Spielzeug, Fahrräder, ihr erstes Puppenhaus (das im Haus ihrer beider Großmutter stand). Ihr erstes Auto. Ihren ersten Urlaub in Übersee.
Und nun teilten sie sich auch noch Tess’ Ehemann.
Tess hatte es geschehen lassen, dass Felicity wie eine Mutter zu Liam war … und wie eine Ehefrau zu Will. Sie hatte ihr ganzes Leben mit Felicity geteilt.
Warum nur? Weil es ihr ganz zupassgekommen war und weil Felicity ganz offensichtlich zu dick war, um einen eigenen Mann zu finden, ein eigenes Leben. War es das, wovon Tess unbewusst ausgegangen war? Oder hatte sie einfach im Stillen angenommen, dass Felicity einfach viel zu fett war, um überhaupt das Verlangen nach einem eigenen Leben zu haben?
Felicity war habgierig geworden. Und jetzt wollte sie Will für sich allein.
Wenn es um eine andere Frau als ihre Cousine gegangen wäre, hätte Tess nie gesagt: »Lebt sie aus, eure Affäre, und dann gib mir meinen Mann zurück!« Das wäre undenkbar gewesen. Aber weil es Felicity war, war es … in Ordnung? Verzeihlich? Tess schüttelte nachdenklich den Kopf Hatte sie es so gemeint? Sie würde ihre Zahnbürste mit Felicity teilen, aber deshalb auch gleich ihren Ehemann? Das jedoch machte den Verrat nur noch schlimmer. Hundert Millionen Mal schlimmer.
Tess drehte sich auf den Bauch und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Ihre Gefühle in Bezug auf Felicity waren unwichtig. Sie musste jetzt an Liam denken. ( Aber was ist mit mir? , hatte ihr zehnjähriges Ich immer wieder
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