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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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den Lederstuhl, schwenkte herum zum Tisch und öffnete im gelblichen Schein der Schreibtischlampe die Mappe.
    Für meine Gattin Cecilia Fitzpatrick.
    Nur im Falle meines Todes zu öffnen.
    Mit zitternden Fingern nahm sie den Brieföffner zur Hand.
    Über ihr hörte sie hektische Schritte, ein dumpfer Rums, als wäre etwas gefallen. Es klang, als wütete dort oben ein Wahnsinniger. Erst jetzt, da John-Paul wieder daheim in Australien war, dämmerte ihr, dass er sich nach ihrem Anruf gestern Abend geradewegs auf den Weg zum Flughafen gemacht haben musste.
    Herrgott noch mal, John-Paul, was um alles in der Welt geht hier vor sich?
    Mit einer schnellen, wilden Bewegung schlitzte sie mit dem Brieföffner den Umschlag auf und zog einen handgeschriebenen Brief heraus. Einen Moment lang hatte sie Mühe zu fokussieren. Die Wörter tanzten vor ihren Augen.
    … unsere kleine Tochter Isabel …
    … tut mir leid, dir das zu hinterlassen …
    … hast mein Leben so glücklich gemacht …
    Cecilia zwang sich, die Zeilen anständig zu lesen. Von links nach rechts. Satz für Satz.

16
    Tess schreckte aus dem Schlaf; sie war hellwach. Sie sah auf die Digitaluhr neben ihrem Bett und stöhnte. Es war erst halb zwölf Uhr nachts. Seufzend knipste sie die Nachttischlampe an, legte sich wieder in ihr Kissen und starrte an die Decke.
    Sie lag in ihrem alten Schlafzimmer, aber es war nicht mehr viel übrig, was sie an ihre Kindheit erinnert hätte. Tess war kaum aus dem Haus gewesen, da hatte ihre Mutter ihr Mädchenzimmer schon in ein schickes Gästezimmer verwandelt, mit einem breiten Bett und den dazu passenden Nachttischen und Lampen. Ganz anders Tante Mary, die Felicitys altes Zimmer genau so gelassen hatte, wie ihre Tochter es verlassen hatte. Felicitys Mädchenzimmer war wie eine perfekt konservierte archäologische Ausgrabungsstätte, sogar die Poster aus der Fernsehzeitschrift hingen noch an den Wänden.
    Der einzige Teil in Tess’ altem Zimmer, der unberührt geblieben war, war die Decke. Sie ließ den Blick am gewellten Rand des weißen Frieses entlangwandern. Früher hatte sie sonntagmorgens gern im Bett gelegen, an die Decke gestarrt und sich den Kopf darüber zerbrochen, was sie auf der Party am Abend zuvor wohl gesagt hatte oder nicht gesagt hatte oder hätte sagen sollen. Partys hatten sie stets in Angst versetzt. So war es auch heute noch. Es war das Fehlen einer Struktur, der Schlendrian, das Nie-Wissen, wo man sich hinsetzen soll. Wenn Felicity nicht gewesen wäre, wäre sie wohl niemals auf eine Party gegangen, aber ihre Cousine war eine echte Partynudel. Sie stand mit Tess in einer Ecke, lästerte still und heimlich über alle Gäste ab und brachte Tess zum Lachen.
    Felicity war ihre Rettung gewesen. War doch so, oder nicht?
    Am Abend, als sie mit ihrer Mutter bei einem Glas Brandy und viel zu viel Schokolade gesessen hatte (»Damit habe ich mich über Wasser gehalten, als dein Vater starb«, hatte Lucy erklärt. »Das ist Medizin.«), hatten sie über Felicitys Anruf gesprochen. Und Tess fragte: »Gestern Abend hast du gleich erraten, dass es um Will und Felicity geht. Wie bist du darauf gekommen?«
    »Felicity konnte es schon früher nicht ertragen, wenn du mal etwas für dich allein hattest«, antwortete ihre Mutter.
    »Was?« Tess war verwirrt, konnte es gar nicht glauben. »Das ist nicht wahr.«
    »Du wolltest Klavier lernen. Felicity lernte ebenfalls Klavier. Du hast Volleyball gespielt. Felicity spielte auch Volleyball. Du wurdest richtig gut in diesem Sport, und Felicity blieb auf der Stecke. Als Nächstes … hast du plötzlich das Interesse an Volleyball verloren und deine berufliche Laufbahn in der Werbung begonnen. Und welche Überraschung! Felicity suchte sich auch einen Beruf in der Werbebranche!«
    »Oh, Mum«, murmelte Tess. »Ich weiß nicht. Du stellst es dar, als wäre alles eiskalt kalkuliert gewesen. Wir machten nur einfach gern die gleichen Dinge. Egal, Felicity ist heute Grafikdesignerin. Und ich bin Werbeleiterin. Das ist ein Riesenunterschied.«
    Für ihre Mutter nicht. Lucy hatte die Lippen zusammengepresst, als wüsste sie es besser, und kippte den letzten Schluck Brandy. »Schau, ich sage ja nicht, dass sie an sich boshaft ist. Aber sie hat dich erstickt! Als du geboren wurdest, habe ich Gott dafür gedankt, dass du kein Zwilling warst, dass du dein Leben nach deinen eigenen Vorstellungen und Wünschen würdest leben können, ohne dieses ewige Vergleichen und Konkurrieren. Und irgendwie

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