Die Wahrheit eines Augenblicks
Sie würde mit anderen darüber sprechen. Recherchen anstellen. Er wäre nicht der erste Häftling, der an Klaustrophobie litt. Die Zellen heutzutage waren doch eigentlich geräumig, oder? Es gab sogar Sportanlagen, oder nicht?
Klaustrophobie bringt einen schließlich nicht um (man hat nur das Gefühl, nicht atmen zu können).
Zwei Hände, die sich einem um den Hals legen, sind dagegen etwas ganz anderes.
Er hatte Janie Crowley erwürgt. Er hatte seine Hände um ihren zierlichen Hals gelegt und zugedrückt. Machte ihn das nicht zu einem bösen Menschen? Ja. Die Antwort lautete eindeutig Ja. John-Paul war böse.
Cecilia weinte und weinte; sie riss den Brief in immer winzigere Stückchen, bis sie sie zwischen den Fingerspitzen rollen konnte.
Ihr Ehemann war böse. Also musste er ins Gefängnis. Cecilia wäre die Frau eines Häftlings. Ob es eine Selbsthilfegruppe für solche Ehefrauen gab? Wenn nicht, würde sie eine gründen. Ein hysterisches Lachen stieg in ihr auf, und sie kicherte vor sich hin wie eine Wahnsinnige. Klar würde sie eine Selbsthilfegruppe gründen. Sie war Cecilia. Sie wäre Vorsitzende des Verbandes für die Ehefrauen von Strafgefangenen und würde Spendensammlungen organisieren, damit die Zellen der armen Ehemänner mit Klimaanlagen ausgestattet werden könnten. Oder gab es die schon in den Gefängnissen? Vielleicht fehlten solche Anlagen nur in den Grundschulen. Cecilia stellte sich vor, wie sie mit den anderen Ehefrauen plauderte, während sie vor der Metalldetektorschleuse anstanden. »Wieso sitzt Ihr Mann denn ein? Oh, Bankraub? Wirklich? Meiner sitzt wegen Mordes. Ja, er hat ein Mädchen erwürgt. Ich gehe nachher noch ins Fitnessstudio, haben Sie Lust mitzukommen?«
Ob man sich unterschwellig gegenseitig zu überbieten versuchte, so wie es unter Müttern oft der Fall war? »Oh, es ist so anstrengend, ein so begabtes Kind zu haben!« Was wäre das Äquivalent für die Frau eines Häftlings? »Oh, es ist so belastend, wenn dein Mann ein Mustergefangener ist! Er wird ständig von den anderen vermöbelt!«
Sie kicherte noch mehr. Himmel, Herrgott, Teufel noch mal! Und wie hieß noch gleich der Schutzheilige der Ehefrauen von Mördern?
»Sie schläft wieder«, sagte John-Paul. Er war wieder ins Arbeitszimmer gekommen und stand vor ihr. Wie immer, wenn er erschöpft war, ließ er auch nun den Finger um sein Kinn kreisen.
Er sah nicht böse aus. Er sah aus wie immer, wie ihr Ehemann. Unrasiert. Verstrubbelt. Schatten unter den Augen. Ihr Mann. Der Vater ihrer Kinder.
Wenn er einmal jemanden getötet hatte, was sollte ihn davon abhalten, es wieder zu tun? Sie, Cecilia, hatte ihn gerade in Pollys Zimmer gehen lassen. Sie hatte einen Mörder ins Zimmer ihrer Tochter gehen lassen.
Aber es war doch John-Paul ! Pollys Vater. Ihr Daddy.
Wie sollte sie den Kindern beibringen, was ihr Vater getan hatte?
Daddy geht ins Gefängnis.
Einen Moment lang setzten ihre Gedanken völlig aus.
Nein, sie könnten es den Mädchen niemals sagen.
»Es tut mir leid«, flüsterte John-Paul. Er streckte den Arm nach ihr, als wollte er sie halten. Nutzlos. Sie waren getrennt durch etwas, das viel zu groß war, um es zu überwinden. »Liebling, es tut mir so schrecklich leid.«
Cecilia schlang die Arme um ihren nackten Körper. Sie schlotterte. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Ich kriege einen Nervenzusammenbruch , dachte sie erleichtert. Ich bin dabei, den Verstand zu verlieren. Auch recht, denn in Ordnung bringen lässt sich das nicht mehr . Was John-Paul getan hatte, war schlicht nicht mehr in Ordnung zu bringen .
20
»Da! Sehen Sie!«
Rachel drückte auf Pause , sodass Connor Whitbys verärgertes Gesicht als Standbild auf der Mattscheibe erschien. Das Gesicht eines Monsters. Die Augen schwarze, böse Löcher. Die Lippen zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Rachel hatte sich die Aufnahme inzwischen viermal angeschaut, und mit jedem Mal war ihre Überzeugung gewachsen. Ein untrüglicher Beweis, wie sie fand. Man müsste diese Aufnahme nur einem Richter zeigen, und das Urteil würde fallen.
Sie drehte sich um zu Rodney Bellach, dem ehemaligen Sergeant, der auf dem Sofa saß, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und sich leicht nach vorn beugte. Sie ertappte ihn dabei, wie er sich die Hand vor den Mund hielt, um ein Gähnen zu unterdrücken.
Gut, es war mitten in der Nacht. Sergeant Bellach (oder einfach nur Rodney, wie er ihr angeboten hatte, ihn zu nennen) hatte offenbar tief und fest
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