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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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Brief hier herum.« Sie nahm die Hände vom Gesicht und sah ihn an. »Was, wenn eins der Mädchen ihn gefunden hätte, John-Paul?« Dieser Gedanke kam ihr schlagartig in den Sinn. Nicht auszudenken, und sie wiederholte die Frage: »Was, wenn eins der Mädchen ihn gefunden hätte? «
    »Ich weiß«, wimmerte er. Er trat ins Zimmer, stellte sich mit dem Rücken gegen die Wand und sah Cecilia hilflos an. »Es tut mir leid.«
    Seine Beine wurden weich, er glitt an der Wand hinunter, saß nun auf dem Teppich.
    »Wieso hast du das geschrieben?« Sie fasste den Brief an einer Ecke, hob ihn hoch und ließ ihn wieder fallen. »Wie kannst du so etwas schriftlich niederlegen, schwarz auf weiß?«
    »Ich hatte etwas zu viel getrunken, und am nächsten Morgen wollte ich den Brief zerreißen.« Mit Tränen in den Augen sah er sie an. »Aber er war nicht auffindbar. Ich bin schier verrückt geworden, als ich nach ihm suchte. Ich war dabei, meine Steuererklärung zu machen, und da muss er zwischen die Papiere gerutscht sein. Ich dachte, ich schaue …«
    »Hör auf!«, schrie sie ihn an. Sie ertrug es nicht, sich seine übliche heillose Leier anhören zu müssen, dass Dinge einfach so verloren gingen, um auf wundersame Weise wieder aufzutauchen, als wäre dieser Brief etwas Stinknormales, so etwas wie eine unbezahlte Autoversicherungsrechnung.
    John-Paul legte den Finger auf seine Lippen. »Du weckst die Mädchen auf«, sagte er mit zittriger Stimme.
    Seine nervöse Unruhe machte Cecilia schwindelig. Sei ein Mann!, hätte sie am liebsten geschrien. Mach es weg! Nimm mir das wieder ab! Es war wie ein widerliches, hässliches, grauenvolles Traumgespinst, das er vernichten musste – eine unerträglich schwere Bürde, die er von ihren Schultern nehmen musste. Sofort. Aber er regte sich nicht.
    »Daddy!« Polly. Sie hatte den leichtesten Schlaf von allen Mädchen. Sie rief immer nach ihrem Vater, wenn sie schlecht geträumt hatte. Cecilia war dann nicht gefragt. Nur ihr Vater konnte die Ungeheuer vertreiben und den Drachen töten. Nur ihr Vater. Ihr Vater, der ein siebzehnjähriges Mädchen getötet hatte. Ihr Vater, der all diese Jahre ein schreckliches Geheimnis mit sich herumgetragen hatte. Es kam Cecilia vor, als hätte sie überhaupt nichts verstanden.
    Der Schock traf sie bis ins Mark. Sie taumelte zu dem schwarzen Lederstuhl, ließ sich hineinfallen und sank in sich zusammen.
    »Daddy!«
    »Ich komme, Polly!« John-Paul stand langsam auf und stützte sich dabei an der Wand ab. Er schaute Cecilia noch einmal verzweifelt an, ging hinaus und lief über den Flur zu Pollys Zimmer.
    Cecilia konzentrierte sich auf ihre Atmung, atmete tief durch die Nase ein (Vor ihrem geistigen Auge sah sie das elfjährige Gesicht Janie Crowleys. »Macht nichts. Ist doch nur eine dumme Parade.«) und ließ den Atem durch den Mund wieder entweichen. Sie sah das grobkörnige Schwarz-Weiß-Foto von Janie vor sich, das auf den Titelseiten der Zeitungen abgebildet gewesen war, einen langen, blonden Pferdeschwanz, der Janie bis auf die Schulter fiel. Mordopfer sahen immer gleich aus: schön, unschuldig und todgeweiht, als wäre es vorherbestimmt. Tief durch die Nase einatmen!, befahl Cecilia sich und erinnerte sich an Rachel Crowley, wie sie die Stirn ganz leicht gegen die Fensterscheibe drückte. Und durch den Mund wieder ausatmen! Was tun, Cecilia? Wie könnte sie das in Ordnung bringen? Wie könnte sie das wieder hinkriegen? Sie brachte doch sonst alles in Ordnung, kriegte alles wieder hin. Alles, was man tun musste, war, das Telefon in die Hand zu nehmen, ins Internet zu gehen, die richtigen Formulare auszufüllen, Entschädigung, Wiedergutmachung zu leisten, Schmerzensgeld zu zahlen, so wäre es das beste Modell.
    Nur, dass nichts auf der Welt Janie wieder lebendig machen würde. Cecilias Gedanken wanderten zurück zu dieser kalten, unverrückbaren, grausamen Tatsache, die wie eine riesengroße, unüberwindbare Mauer war.
    Sie begann, den Brief in winzig kleine Stücke zu zerreißen.
    Ein Geständnis ablegen. John-Paul muss ein Geständnis ablegen. Ganz klar. Er muss sich zu seiner Schuld bekennen und mit sich wieder ins Reine kommen. Eine weiße Weste bekommen. Alles bereinigen. Den Regeln gehorchen. Das Gesetz befolgen. Er muss ins Gefängnis. Verurteilt werden. Ein Urteil entgegennehmen. Hinter Gitter gehen. Aber man konnte ihn nicht einsperren. Er würde verrückt werden. Dann musste er eben Medikamente einnehmen. Sich einer Therapie unterziehen.

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