Die Wahrheit eines Augenblicks
plötzlich viel klarer, was genau er Rachel und Ed Crowley angetan hatte. Sein Entsetzen kannte keine Grenzen.
»Als wir noch in der Bell Avenue wohnten, kam ich auf meinem Weg zur Arbeit immer an Janies Vater vorbei, der mit dem Hund gerade Gassi ging«, sagte er. »Und sein Gesicht … es sah aus … ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es sah aus, als litte er fürchterliche körperliche Schmerzen. Meinetwegen, alles meinetwegen, dachte ich. Ich bin schuld an seinem Schmerz. Ich habe versucht, morgens zu anderen Zeiten aus dem Haus zu gehen oder eine andere Route zu fahren, doch ich habe ihn immer und immer wieder gesehen.«
In der Bell Avenue wohnten sie, als Isabel ein Baby gewesen war. Cecilias Erinnerungen an diese Wohnung rochen nach Baby-Shampoo, Windelcreme und püriertem Birnen-Bananen-Brei. Sie waren beide ganz vernarrt in ihr neugeborenes Baby gewesen. Manchmal ging John-Paul später zur Arbeit, damit er morgens im Bett noch länger mit Isabel kuscheln und ihr molliges Bäuchlein unter dem kleinen weißen Strampler kosen konnte. Aber so war es gar nicht gewesen. Es war alles ganz anders gewesen. Er hatte lediglich versucht zu vermeiden, dem Vater des Mädchens, das er ermordet hatte, zu begegnen.
»Ich sah Ed Crowley und dachte, das war es jetzt, ich muss es ihm beichten. Aber dann dachte ich wieder an dich und das Baby. Wie könnte ich euch das antun? Wie könnte ich es dir sagen? Wie könnte ich dir zumuten, das Baby allein großzuziehen? Ich dachte daran, aus Sydney wegzuziehen. Doch ich wusste, dass du deine Eltern nicht allein lassen würdest. Und es hätte sich sowieso falsch angefühlt. So, als liefe ich weg. Ich musste hierbleiben, wo ich jeden Augenblick Janies Eltern begegnen konnte und daran erinnert wurde, was ich getan habe. Ich musste dieses Leid auf mich nehmen. Und da kam mir eine Idee: Ich musste neue Wege finden, mich zu bestrafen, zu leiden – ohne, dass andere litten. Ich musste Buße tun.«
Alles, woran er Spaß hatte und was er zum eigenen Vergnügen unternahm, ließ er fortan sein. Darum hatte er auch das Rudern aufgegeben. Er liebte es, doch er musste es aufgeben, weil Janie niemals rudern würde. Er verkaufte seinen geliebten Alfa Romeo, weil Janie niemals ein Auto fahren würde.
Er verschrieb sich der Gemeinde, als hätte ein Richter ihm endlos viele Sozialstunden aufgebrummt.
Dabei hatte sich Cecilia gefreut, dass er so »sozial engagiert« war. So haben wir etwas gemeinsam, hatte sie gedacht. In Wirklichkeit aber gab es den John-Paul, den sie zu kennen meinte, überhaupt nicht. Er war ein Fantasiegespinst. Und sein ganzes Leben war ein Schauspielakt: nur damit Gott ihm gnädig war und ihn ungeschoren davonkommen ließ.
Er sagte, dass ihm der soziale Dienst in der Gemeinde schwerfalle. Was auch sonst? Er durfte ihm ja auch keinen Spaß machen. Unmöglich, beispielsweise der Freiwilligen Feuerwehr beizutreten, denn was wäre, wenn er Freude finden würde an der Kameradschaft, dem fröhlichen Miteinander, dem Adrenalin-Kick? Würde diese Freude dann seinem »Schuldenkonto« angeschrieben werden und seine Schuld noch größer machen? Er kalkulierte in einem fort, fragte sich, was Gott noch von ihm erwarten könnte, wie viel härter er noch büßen müsste.
Natürlich wusste er, dass nichts von alledem genug war und dass er nach seinem Tod in der Hölle schmoren würde. Und das meint er ganz im Ernst, erkannte Cecilia. Er glaubt wirklich, dass er in die Hölle kommt, als wäre die Hölle ein realer Ort, keine abstrakte Idee. Es lag ihr auf der Zunge zu sagen: Gott sei Dank gibt es die irdische Verdammnis, doch sie sprach es nicht aus. John-Paul bezog sich auf den »lieben Gott« in einer vertrauten eiskalten Weise. So katholisch waren sie nun auch wieder nicht. Sicher, sie gingen regelmäßig in die Kirche, aber Himmel noch mal, sie waren nicht die Frömmsten ! Gott kam in ihren alltäglichen Gesprächen gar nicht vor.
Nur dass das hier keine alltägliche Unterhaltung war.
John-Paul redete endlos weiter. Cecilia musste an das moderne Märchen vom seltenen Wurm denken, der im menschlichen Körper wohnt und von dem man sich nur kurieren kann, indem man sich selbst aushungert. Dann setzt man sich vor ein köstliches Mahl und wartet, bis der Wurm das Essen riecht, sich langsam entringelt, sich durch die Kehle nach oben schiebt und aus dem Mund herauskriecht. John-Pauls Stimme erschien ihr plötzlich wie dieser Wurm: ein nicht enden wollendes Grauen, das seinem
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