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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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Mund entglitt.
    Er erzählte ihr, dass seine Schuldgefühle und seine Reue schier unerträglich wurden, je älter die Mädchen wurden. Albträume. Migräneanfälle. Depressionen. All das versuchte er, vor ihr, Cecilia, zu verbergen.
    »Anfang des Jahres begann Isabel dann, mich immer mehr an Janie zu erinnern«, sagte er. »Wie sie ihre Haare trug. Ich musste sie in einem fort ansehen. Es war schrecklich. Ich stellte mir vor, irgendwer würde Isabel etwas antun, so wie … so wie ich Janie. Ein unschuldiges, kleines Mädchen. Ich hatte das Gefühl, mich selbst in das Leid versetzen zu müssen, das ich über Janies Eltern gebracht habe. Ich stellte mir vor, Isabel wäre tot. Es wurde beinahe zwanghaft. Immer öfter musste ich weinen. Unter der Dusche. Im Auto. Ich habe laut geschluchzt.«
    »Esther hat mitbekommen, wie du geweint hast. Bevor du nach Chicago gefahren bist. Unter der Dusche.«
    »Wirklich?« John-Paul blinzelte. »Ich habe nichts bemerkt.«
    Einen Moment lang herrschte wunderbare Stille, als müsste er diese Nachricht erst einmal verdauen.
    Gut, dachte Cecilia. Endlich. Er hatte aufgehört zu reden, Gott sei Dank! Sie fühlte eine körperliche und seelische Erschöpfung, wie sie sie seit den Geburtswehen nicht mehr gespürt hatte.
    »Ich habe auf Sex verzichtet«, sagte John-Paul.
    Himmelherrgott!
    Vergangenen November hatte er versucht, sich neue Wege auszudenken, sich selbst zu kasteien, und deshalb hatte er beschlossen, sechs Monate lang auf Sex zu verzichten. Er war sogar beschämt gewesen, dass er darauf nicht längst gekommen war. Sex war immerhin eines der größten Vergnügen in seinem Leben. Es hatte ihn fast umgebracht. Er hatte Sorge, sie, Cecilia, könnte denken, er habe eine Affäre, weil er ihr ja nicht den wahren Grund erzählen konnte.
    »Oh, John-Paul.« Cecilia seufzte in der Dunkelheit.
    Diese jahrelange Suche nach Möglichkeiten, Buße zu tun und Schuld einzulösen, schien so albern, so kindisch und so vollkommen sinnlos zu sein!
    »Ich habe Rachel Crowley zu Pollys Piratenparty eingeladen«, sagte Cecilia und staunte über die ahnungslose Person, die sie wenige Stunden zuvor noch gewesen war. »Ich habe sie heute Abend heimgefahren. Ich habe mit ihr über Janie gesprochen. Ich dachte, ich hätte einen guten Draht zu ihr gefunden …«
    Ihre Stimme brach.
    Cecilia hörte, wie John-Paul tief durch die Nase einatmete.
    »Es tut mir so leid«, sagte er. »Ich weiß, ich wiederhole mich. Ich weiß, es ist sinnlos.«
    »Schon gut«, meinte sie und musste fast hysterisch lachen, weil es gelogen war.
    Das war der letzte Satz, an den sie sich erinnerte. Danach mussten sie beide in plötzlichen Tiefschlaf gesunken sein.
    »Alles okay?«, fragte John-Paul jetzt.
    Sie roch seinen schalen, morgendlichen Atem. Ihr eigener Mund war trocken. Ihr Kopf schmerzte. Sie fühlte sich verkatert, elend und beschämt, als hätten sie es in der vergangen Nacht wild getrieben.
    Cecilia drückte zwei Finger an ihre Stirn und schloss die Augen. Sie war nicht imstande, ihn anzusehen. Ihr Nacken war verspannt. Sie musste irgendwie schief gelegen haben.
    »Meinst du, du kannst …« Er stockte, räusperte sich krampfhaft und sprach im Flüsterton weiter. »Meinst du, du kannst bei mir bleiben?«
    Sie sah ihm in die Augen, in denen der pure Schrecken stand.
    Legt eine einzige Tat für immer fest, wer man ist? Ist eine einzige böse Tat als Teenager nach zwanzig Jahren Ehe ( guter Ehe) bereinigt? Nach zwanzig Jahren als guter Ehemann und vorbildlicher Vater? Bei anderen Menschen funktioniert das so. Bei Fremden. Bei Leuten, von denen man in der Zeitung liest. Da war Cecilia sich ganz sicher. Aber bei John-Paul? Galten für ihn andere Regeln? Und wenn ja – warum ?
    Auf dem Flur waren schnelle trippelnde Schritte zu hören, und mit einem Satz hopste ein kleiner, warmer Körper zu ihnen ins Bett.
    »Morgen, Mum«, rief Polly und kuschelte sich zwischen sie und John-Paul. Sie schob ihren Kopf auf Cecilias Kissen, und ihr blauschwarzes Haar kitzelte Cecilias Nase. »Hallo, Daddy.«
    Cecilia betrachtete ihre jüngste Tochter, als sähe sie sie zum ersten Mal: makellose Haut, lange, geschwungene Wimpern, strahlend blaue Augen. Alles an ihr war vollkommen und rein.
    Cecilia und John-Paul sahen sich an und verstanden sich. Darum .
    »Hallo, Polly«, sagten sie gleichzeitig.

23
    Liam sagte etwas, das Tess nicht verstehen konnte. Sie beugte sich zu ihm hinunter und blieb abrupt vor dem Eingang der St.-Angela-Schule

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