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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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verschluckt.
    Tess drehte sich um und lief über den Schulhof hinaus auf die Straße. Sie fühlte sich in eigenartiger Weise ›losgelöst‹, so wie immer, wenn sie Liam in die Obhut anderer gab, als wären die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben. Was würde sie jetzt mit sich anfangen? Und was würde sie Liam nach der Schule erzählen? Sie konnte nicht lügen und behaupten, alles wäre in Ordnung, aber sie konnte ihm auch nicht die Wahrheit sagen. Oder doch? Daddy und Felicity lieben sich. Daddy sollte eigentlich mich lieben. Und deshalb bin ich wütend auf die beiden. Ich fühle mich sehr verletzt .
    Angeblich ist es ja immer das Beste, bei der Wahrheit zu bleiben.
    Sie hatte überstürzt gehandelt. Hatte sich vorgemacht, sie würde das alles Liam zuliebe tun. Sie hatte ihr Kind aus seinem Zuhause, seiner Schule, seinem Leben gerissen. Aber im Grunde hatte sie das alles nur für sich getan; sie hatte einfach eine möglichst große Distanz zwischen Will und Felicity und sich bringen wollen. Und nun hing Liams Glück an einer etwas durchgedrehten, kraushaarigen Frau namens Trudy Applebee.
    Vielleicht sollte sie ihn zu Hause unterrichten lassen, bis das alles ausgestanden war. Sie könnte den Großteil des Hausunterrichts übernehmen. Englisch. Erdkunde. Es könnte richtig Spaß machen. Bis auf Mathe. Das wäre ihr Untergang. In Mathe war sie eine Niete. Felicity hatte Tess früher immer durch Mathe gepaukt, und jetzt war es an ihr, Liam in Mathe zu helfen. Erst neulich hatte Felicity gesagt, dass sie sich richtig darauf freue, sich wieder mit quadratischen Gleichungen beschäftigen zu dürfen, wenn Liam auf der Highschool wäre. Und Tess und Will hatten einander nur angesehen, hatten geschaudert und gelacht. Felicity und Will hatten sich so derart normal verhalten und ihr fieses kleines Geheimnis für sich behalten! Die ganze Zeit.
    Sie schlenderte zurück zum Haus ihrer Mutter, als sie hinter sich eine Stimme hörte.
    »Guten Morgen, Tess.«
    Es war Cecilia Fitzpatrick, die plötzlich neben ihr auftauchte und in dieselbe Richtung ging, die klobigen Autoschlüssel in der Hand. Irgendwie hatte sie einen komischen Gang, als humpelte sie.
    Tess holte tief Luft. »Morgen!«
    »Hast du Liam zu seinem ersten Schultag gebracht?«, sagte Cecilia. Sie trug eine Sonnenbrille, sodass Tess der direkte Blickkontakt, den sie scheute, erspart blieb. Cecilia klang leicht erkältet. »Hat alles gut geklappt? Ist am Anfang ja immer ein bisschen schwierig.«
    »Oh, nicht wirklich, aber Trudy …« Tess hielt an. Sie war einen Moment abgelenkt, da ihr Blick auf Cecilias Schuhe fiel, die so gar nicht zusammenpassten. Der eine Fuß steckte in einem schwarzen Ballettschuh, der andere in einer goldenen Sandalette mit Absatz. Kein Wunder, dass sie so komisch ging! Tess sah wieder auf und fuhr fort: »Aber die Schulleiterin, Trudy Applebee, hat sich wunderbar um ihn gekümmert.«
    »Oh, ja, Trudy ist allererste Klasse, da gibt es nichts«, sagte Cecilia. »So, das hier ist mein Auto.« Sie zeigte auf einen glänzenden, weißen Wagen mit dem Tupperware-Logo an der Seite. »Wir haben vergessen, dass Polly heute Sport hat. Das vergesse ich eigentlich … nie … nur heute; also musste ich noch einmal nach Hause und ihr die Turnschuhe bringen. Polly ist nämlich in ihren Sportlehrer verliebt, und wenn ich zu spät mit den Schuhen komme, macht sie mir die Hölle heiß.«
    »Connor«, murmelte Tess. »Connor Whitby. Der ist ihr Sportlehrer?« Sie sah das Bild vor sich, wie er in der vergangenen Nacht mit dem Motorradhelm unter dem Arm an der Tankstelle gestanden hatte.
    »Ja, genau. Alle kleinen Mädchen sind in ihn verliebt. Und eigentlich auch die Hälfte der Mütter.«
    »Ach, wirklich?« Schwapp. Schwapp. Das Wasserbett.
    »Guten Morgen, Tess. Hallo, Cecilia!« Es war Rachel Crowley, die Schulsekretärin. Sie kam ihnen aus der anderen Richtung entgegen, trug weiße Sportschuhe, einen gediegenen Rock und eine Seidenbluse. Tess fragte sich, ob es irgendeinen Menschen im Ort gab, der bei ihrem Anblick nicht an Janie Crowley und das, was ihr im Park zugestoßen war, denken musste. Dass Rachel einmal eine ganz gewöhnliche Frau gewesen war und niemand sich hätte vorstellen können, welch unfassbare Tragödie sie ereilen würde, war heute völlig undenkbar.
    Rachel blieb stehen. Noch mehr Unterhaltung. Es wollte einfach nicht enden. Rachel sah müde und blass aus, die weißen Haare waren nicht so schön geföhnt wie tags zuvor, als Tess bei ihr

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