Die Wahrheit stirbt zuletzt
denn niemals müde? Müssen wir nicht irgendwann einmal schlafen?«
»Du machst mich jedenfalls nicht müde. Und schlafen können wir, wenn wir alt sind.«
»Wer sagt denn, dass wir überhaupt alt werden.«
»Ich sage das. Wir können hier in Spanien zusammen alt werden, wenn der Krieg erst einmal gewonnen ist. Du möchtest doch gern in Spanien leben, oder?«
»Ach, das sind ja ganz neue Töne. Auf einmal heißt es, wenn der Krieg gewonnen ist, und nicht mehr, falls der Krieg von uns gewonnen wird.«
»Da siehst du mal, was du mit mir machst.«
»Jetzt sei endlich still und hör dir meine Geschichte an, auch wenn sie so traurig ist.« Sie lehnt sich zurück und stützt sich auf einer Hand ab, pustet den Rauch in Richtung Decke und erzählt mit ihrer leisen, sinnlichen Stimme.
»Es war einmal ein hübsches Mädchen, das hieß Isabel Segura und lebte vor vielen hundert Jahren in Teruel. Sie war die Tochter einer sehr vornehmen und reichen Familie, und sie war ein glückliches kleines Mädchen. Ihr bester Freund hieß Diego Marcilla und war der Sohn eineranderen vornehmen und reichen Familie aus Teruel. Sie wuchsen gemeinsam auf und waren unzertrennlich und verliebten sich unsterblich ineinander. Als sie das Alter erreicht hatten, in dem man sich vermählen darf, wollten sie heiraten. Aber Diegos Familie war in finanzielle Schwierigkeiten geraten und schließlich völlig verarmt, sodass Isabels Vater, der reichste Mann von Teruel, sich weigerte, der Vermählung zuzustimmen. Diego bat so inständig darum, sich als würdig erweisen und anschließend um Isabels Hand anhalten zu dürfen, dass sein Flehen schließlich erhört wurde. Isabels Vater stimmte zu, dass Diego Teruel für fünf Jahre verließ und versuchte, sein Glück zu machen. Wenn es ihm im Laufe dieser fünf Jahre gelänge, zu Reichtum zu kommen, würde er Isabel zur Frau erhalten.«
Irina drückt ihre Zigarette aus und dreht sich zu ihm um. Ihr Blick ist fern, und ihre Augen glänzen ein wenig feucht, als sie weitererzählt.
»Diego brach auf, und von da an wurde Isabel von ihrem Vater gedrängt, einen der vielen Verehrer zu heiraten, die zu ihnen ins Haus kamen. Aber Isabel weigerte sich. Gott wolle, dass sie Jungfrau bleibe, bis sie zwanzig sei, und Frauen müssten lernen, wie man einen Haushalt führe, bevor sie heirateten, verteidigte sie sich. Denn sie liebte nur Diego.
Der Vater liebte seine Tochter sehr und ließ sie gewähren, aber als man fünf Jahre lang nichts von Diego gehört hatte, vermählte er seine Tochter mit einem reichen Mann namens Don Pedro. Die Hochzeit fand genau an dem Tag statt, als die fünf Jahre um waren. Unmittelbar nachdem der Priester sie zu Mann und Frau erklärt hatte, entstand große Unruhe an einem der Stadttore von Teruel. Es war Diego, der mit Reichtümern beladen nach Hause zurückgekehrt war, um sich mit seiner geliebten Isabel zu vermählen. Es war zu spät.
Er war todunglücklich, und während der Hochzeitsnacht schlich er sich in das Schlafzimmer von Isabel und Don Pedro. Er weckte Isabel sanft und flüsterte: ›Küss mich, sonst sterbe ich.‹ Isabel weigerte sich und sagte: ›Gott erlaubt es nicht, dass ich meinen Ehemann hintergehe. Ich bitte dich in Gottes Namen, dir eine andere Frau zu suchen und mich zu vergessen. Denn wenn unsere Liebe unseren Herrgott nicht erfreut, kann sie auch mich nicht glücklich machen.‹ Diego flehte sie erneut eindringlich an, ihm einen letzten Kuss zu geben, aber sie weigerte sich standhaft. Diego brach es vor Trauer das Herz, mit einem letzten Seufzer starb er und sank vor seiner geliebten Isabel zu Boden.«
»Das ist wirklich eine traurige Geschichte, meine Geliebte«, sagt Magnus und muss über den naiven Ernst in ihrer Stimme lachen.
»Sei still. Es geht noch weiter. Als Isabel klar wird, dass ihr Herzallerliebster tot ist, fängt sie am ganzen Körper an zu zittern. Sie weckt ihren Mann und sagt, sein Schnarchen mache ihr Angst. Sie habe ja noch nie mit einem Mann in einem Bett geschlafen. Sie sagt, er solle ihr eine Geschichte erzählen, damit sie wieder zur Ruhe komme. Das tut er, und im Gegenzug bittet er sie, ihm ebenfalls eine Geschichte zu erzählen. Isabel erzählt ihm von Diego und dass er jetzt tot neben dem Bett liege. ›Oh, du grausames Weib. Warum hast du ihn denn nicht geküsst?‹, fragt der verzweifelte Ehemann. ›Ich wollte meinen Mann nicht hintergehen‹, antwortet Isabel.
Don Pedro bekommt Angst, man könne ihn anklagen, an Diegos Tod schuld
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