Die Wahrheit stirbt zuletzt
überstanden ist. Für dieses Mal.
Wie ein Schlafwandler und beinahe taub und blind gegenüber den Schreien der Verwundeten und der stummen Anklage der Toten geht er durch die zerstörte Stadt. Wie die Menschen, denen er auf seinem Weg begegnet, ist auch er grauschwarz von Staub und Asche, und es dröhnt und rauscht in seinen Ohren. Wie durch ein Wunder ist er unverletzt geblieben. Sein Körper fühlt sich an, als hätte er gegen einen Schwergewichtsboxer gekämpft, aber erhat nur einige oberflächliche Schrammen an der linken Hand und einen nicht sonderlich tiefen Riss über dem rechten Auge. Immer wieder betastet er seine Gliedmaßen, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich unversehrt geblieben ist.
Als er auf der Plaza Altozano anlangt, ist es bereits später Nachmittag. Einem Gebäude in der hinteren Ecke des Platzes fehlt der Giebel, aber ansonsten ist die Plaza ungeschoren davongekommen. Nach und nach strömen die Menschen aus dem Luftschutzraum unter der Plaza und schauen sich mit furchtsamen Augen um. Irina ist natürlich nicht unter ihnen.
Alfonso steht auf seinem üblichen Platz an der Rezeption und wirkt so ungerührt, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Er reicht Magnus den Schlüssel, sagt dann aber doch: »Es freut mich, dass Sie unverletzt geblieben sind. Soweit ich das unter dem Ruß erkennen kann.«
»Danke. Ich bin tatsächlich mit heiler Haut davongekommen, aber es gibt viele Tote und Verletzte.«
»Kein Wunder. Diese verfluchten Flugzeuge. Es ist ja nicht der erste Luftangriff, aber diesmal soll es besonders schlimm gewesen sein.«
»Ja, das war es wirklich.«
»Diese Form von Krieg ist eine einzige Schweinerei. Es ist überhaupt nichts Ehrenhaftes mehr dabei.«
»Nein. Ist Señorita Irina zufällig auf ihrem Zimmer?«
»Nein. Sie hat das Hotel bereits vor einigen Stunden verlassen. Genau genommen, kurz nachdem Sie gegangen sind.«
»Hatte sie ihre Kamera dabei?«, fragt Magnus, denn er versteht nicht, warum sie weggegangen ist. Wenn sie wie eine Verrückte losgerannt wäre, kurz nachdem die ersten Bomben fielen, hätte ihn das nicht überrascht. Aber warum war sie kurz nach ihm losgegangen?
»Ja, das hatte sie. Die Señorita geht ja nirgendwo ohne ihre Kamera hin.«
»Das stimmt.«
Sie schweigen beide. Magnus hat den Eindruck, dass Alfonso ihm etwas verheimlicht. Auf seinem markanten Gesicht liegt ein schwermütiger Zug. Seine Augen sehen aus, als hätten sie schon alles gesehen, sie sind schwer zu deuten und wirken sonderbar leblos. Sein Alter ist schwer zu schätzen, irgendwo zwischen vierzig und sechzig. Er trägt wie immer einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd mit einer dunklen Krawatte. Die schlechten Zeiten lassen sich vor allem am ausgefransten Hemdkragen und den abgewetzten Ellbogen seiner Jacke ablesen. Irina ist vermutlich noch unterwegs, weil sie wie so viele andere von dem Bombenangriff überrascht wurde und anschließend gleich mit ihrer Arbeit begonnen hat. Sobald es dunkel wird, wird sie ins Hotel zurückkehren und ihre Fotos im Badezimmer entwickeln, es sei denn, sie kann einen ihrer Kollegen überreden, die Filme nach Valencia ins Labor mitzunehmen. Magnus sieht Alfonso an, der seinen Blick ruhig erwidert, aber er wird den Gedanken nicht los, dass die dunklen Augen irgendetwas vor ihm verbergen.
»Um wie viel Uhr, sagten Sie, hat Fräulein Irina das Hotel verlassen?«
»Darüber habe ich nichts gesagt, aber es war heute Morgen gegen halb zehn.«
Magnus selbst hatte das Hotel um halb neun verlassen. Jetzt war es schon fast siebzehn Uhr, und die Dunkelheit brach bereits mit Wintergeschwindigkeit herein. Irina würde bald zurückkommen. Sie war ja schon ein großes Mädchen. Sie kam auch in schwierigen Situationen allein zurecht. Er würde einen Drink mit in die Badewanne nehmen und auf sie warten, dann könnten sie zusammen zu Abend essen. »Ich hätte gern den Schlüssel.«
»Den habe ich Ihnen doch bereits gegeben.«
»Für das Zimmer des Fräuleins.«
Alfonso dreht sich zum Schlüsselbrett um und sagt: »Das Fräulein muss ihn mitgenommen haben. Sie müssen also mit Ihrem eigenen Zimmer vorliebnehmen, bis sie zurück ist.«
»In Ordnung. Gibt es warmes Wasser?«
»Erstaunlicherweise ja. Die Welt ist aus den Fugen, aber warmes Wasser haben wir. Dafür habe ich gesorgt.«
Magnus nickt und schiebt einige Scheine über den Tresen. Sie verschwinden mit einer geübten Handbewegung in Alfonsos Jackentasche. Was verbirgt er vor ihm, und warum
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