Die Wahrheit stirbt zuletzt
lauert die Angst in seinen dunklen Augen?
Auf seinem Zimmer schenkt Magnus sich ein großes Glas spanischen Aguardiente ein und dreht den Warmwasserhahn über der Badewanne auf. Er steht nackt vor dem mannshohen Spiegel in der Tür des braunen Kleiderschranks und erkennt das verschmierte Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen beinahe nicht wieder, das ihn aus dem Spiegel anstarrt. An den Knien und am Ellbogen hat er einige Hautabschürfungen und am Körper mehrere Blutergüsse. Sein Puls schlägt nach wie vor ziemlich schnell. Er ist so erschöpft, als wäre er einen Marathon gelaufen.
Aus der Stadt dringen Sirenengeräusche und Rufe zu ihm herauf, aber in seinem warmen Zimmer fühlt er sich sicher. Zwar sind die Deutschen auch früher schon mit einer weiteren Ladung Bomben zurückgekehrt, aber sein Gefühl sagt ihm, dass es diesmal nicht so sein wird. Natürlich können sie die Stadt auch nachts bombardieren und die Brände als Orientierungsmarken benutzen, aber darüber will er sich jetzt keine Gedanken machen. Er ist zu müde.
Er lässt sich ins Wasser gleiten, das er so heiß wie möglich hat einlaufen lassen, nimmt noch einen Schluck von dem bitteren Branntwein und schließt die Augen.
Er wacht auf, als er zu frieren beginnt. Das Wasser ist eiskalt, er hat einen steifen Nacken und fühlt sich insgesamt so mitgenommen, als wäre er an einer Massenschlägerei beteiligt gewesen und hätte den Großteil der Schläge einstecken müssen. Er leert das Glas mit dem Branntwein und steht auf. Sein Mund ist trocken, und er trinkt Wasser aus einer Flasche, die auf seinem Nachttisch steht.
Er hat einen merkwürdigen Traum gehabt, in dem er über eine ausgedörrte Landschaft hinweggeflogen ist, die mit Kinderleichen übersät war. Irina ging zwischen ihnen umher und machte Fotos. Sie hatte ein grellgelbes Kleid an und hohe schwarze Stiefel und lachte die ganze Zeit unbeherrscht. Er versuchte, ihr etwas zuzurufen, aber aus seinem Mund kam kein Ton heraus. Er wachte auf, als er im Begriff war abzustürzen und als er zu seinem Entsetzen bemerkte, dass all die toten Kinder aussahen wie Mads, als er acht Jahre alt war.
Magnus ist verwirrt und sehr müde. Er setzt die Flasche mit dem Aguardiente an den Mund und nimmt einen großen Schluck. Sein Kopf fühlt sich an, als wäre er voller Watte und Sand. Er hat das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, aber er weiß nicht, was. Seine Hände zittern, und kurz darauf zittert sein ganzer Körper. Er trinkt noch einen Schluck. Im Zimmer ist es warm, aber er friert. Er kriecht unter die Decke, zieht sie hoch bis zum Kinn und schläft sofort ein, obwohl er unkontrolliert zittert.
Mitten aus einem weiteren unangenehmen Traum wird er von einem Klopfen an der Tür geweckt. Das ist bestimmt Irina, denkt er froh, auch wenn das Klopfen lauter klingt als ihres.
»Einen Augenblick, Schatz!«, ruft er, steigt aus dem Bett und hüllt sich in den dunkelblauen Morgenmantel des Hotels. Es geht ihm viel besser. Er ist hungrig und durstig, sicher ein gutes Zeichen, und leert das Wasserglas, das auf dem Schreibtisch steht. Es ist dunkel im Zimmer,denn die schweren Gardinen sperren das Tageslicht aus, aber aus dem Badezimmer dringt ein Streifen Licht. Er schaltet die Deckenlampe ein und schaut auf seine Uhr. Fünf Uhr morgens. Er hat zehn oder elf Stunden geschlafen. Es klopft noch lauter. Mit Sicherheit ist es nicht Irina, die in dieser Lautstärke gegen die Tür hämmert.
Er öffnet die Tür.
Draußen steht Gerhardt Pandrup. Er hat seine lange Kommissarsjacke an, sie ist aufgeknöpft, sodass man den Schulterriemen über seinem Hemd und das Pistolenholster am Gürtel sehen kann. Die grüne Armeehose hat er in seine schwarzen Militärstiefel gesteckt. Er riecht nach dem Rauch und Ruß der Stadt, und seine Augen sind gerötet und müde. Hinter ihm stehen zwei Männer der Guardia Asaltos in ihren schwarzen Uniformen.
»Guten Morgen, Magnus Meyer«, sagt Pandrup auf Dänisch.
»Was zum Teufel wollen Sie von mir?«
»Mit Ihnen reden.«
»Um diese Zeit?«
»Sie werden es wahrscheinlich nicht glauben, aber ich bin hier, um Ihnen einen Gefallen zu tun. Um Ihnen vielleicht das Leben zu retten. Im Übrigen haben Sie nach mir gefragt, oder?«
Eine eisige Kälte legt sich um Magnus’ Herz. »Geht es um Irina? Oder um Mads? Ist es das?«
»Darf ich reinkommen?«
»Ist es das? Was zum Teufel ist passiert, dass du mitten in der Nacht hierherkommst?«
Seine Stimme muss aggressiv und drohend geklungen
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