Die Wahrheit stirbt zuletzt
schenken. Sie hat sich nicht von ihm verabschiedet. Sie haben einander heute Morgen nicht einmal einen Abschiedskuss gegeben. Gestern Morgen. Vor hundert Jahren. Sie würde ihn niemals auf so schäbige Weise verlassen. Möglicherweise hatten sie nur von geborgter Zeit gelebt, aber ihn ohne ein Wort zu verlassen, ohne die geringste Vorwarnung, ohne irgendeine zärtliche Geste, das bringt er in keiner Weise mit der Leidenschaft und den Liebeserklärungen der letzten Tage zusammen.
Pandrup greift in die Innentasche seiner Lederjacke und zieht einen geöffneten Briefumschlag hervor, den er Meyer reicht: »Er ist auf Spanisch, ich kann ihn also nicht lesen, aber ich weiß in groben Zügen über seinen Inhalt Bescheid.«
Magnus nimmt den Umschlag. Darin befindet sich ein einzelner Briefbogen mit Irinas Handschrift, die ein wenig kindlich aussieht, weil sie die lateinischen Buchstaben so ordentlich aufs Papier malt. Er hat gesehen, mit welch elegantem Schwung und wie viel erwachsener sie dagegendie kyrillischen Zeichen schreibt. Er liest den Brief mehrmals, auch wenn er den Sinn der Worte schon beim ersten Lesen erfasst hat.
Mein lieber Magnus,
die Tage und Nächte mit Dir gehören zu den glücklichsten meines Lebens. Sie werden immer in einem besonderen Glanz erstrahlen, der sich mit dem warmen Licht messen kann, das für alle Zeiten über den Erinnerungen an meine Kindheit liegen wird. Ich will und kann Dich niemals vergessen, aber ich möchte Dich darum bitten, mich zu vergessen und Dein eigenes Leben weiterzuführen. Ich habe nicht den Mut, Dir Lebewohl zu sagen. Ich würde Dich so gern küssen und Dich ein letztes Mal lieben. Dich berühren. Deine Stimme hören. Deine starken Arme spüren. Über Deine albernen Bemerkungen lachen. Aber dann würde ich anfangen zu weinen, und die letzte Erinnerung, die Du an mich hättest, wäre ein verheultes und hässliches Gesicht. Das möchte ich Dir nicht antun, mein Geliebter.
Kamerad Stepanowitsch hat mich nach Moskau zurückbeordert. Mein Bruder und mein Vater sind als Volksfeinde festgenommen und des Hochverrats angeklagt worden. Das ist natürlich eine falsche Anklage, und ich kann hoffentlich dazu beitragen, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Ich habe vor, mich mit Kamerad Stalin persönlich in Verbindung zu setzen. Wenn er von diesem Missverständnis erfährt, wird sich alles klären lassen, davon bin ich überzeugt.
Ich habe es gestern Abend erfahren. Es ist mir schwergefallen, es vor Dir geheim zu halten und die Komödie der Verstellung zu spielen, aber ich hatte nicht den Mut, Dir zu erzählen, dass ich abreisen muss und mit Sicherheit nie mehr nach Spanien zurückkehren werde.
Kamerad Stepanowitsch wird mich mit dem Zug nach Valencia begleiten. Er hat mich auf mein Zimmer geschickt, damit ich meine Sachen packe, daher schreibe ich dies in großer Eile. Dein Landsmann Gerhardt Pandrup hat die Güte gehabt, mir zu versprechen, dass er Dir diesen Brief aushändigen wird, obwohl Kamerad Stepanowitsch dagegen war.
Pass auf Dich auf, mein Geliebter. Ich werde Dich niemals vergessen. Wir Russen sind ein sentimentales Volk, das eine Schwäche für lange, schöne und auch tragische Gedichte hat. Vielleicht wird irgendwann in ferner Zukunft ein Troubadour ein Lied über Dich und mich dichten und es ›Die Liebenden von Albacete‹ nennen. Denn das waren wir, als wir in Spanien gemeinsam jung und frei waren.
In Dankbarkeit für immer
Deine Irina
Er spürt seine Tränen. Er spürt seine Wut und seine Verzweiflung und eine tiefe Enttäuschung, die ihm die Kehle zuschnürt. Warum tut sie das? Sie reist nach Hause in den sicheren Tod. Das muss ihr doch klar sein. Niemand, der bei den Moskauer Prozessen angeklagt ist, wird freigesprochen. Ihr Vater und ihr Bruder werden sie mit in den Untergang ziehen. Zugleich ist er verletzt. Sie hat ihre Wahl getroffen und sich für ihren Vater entschieden. Das Einzige, was ihn davon abhält, sie für diese Entscheidung zu hassen, ist ihre Wortwahl. Sie schreibt, dass sie von Stepanowitsch nach Hause beordert worden sei, den er mit einer derartigen Inbrunst hasst, dass er froh ist, dass der Russe ihm in diesem Moment nicht gegenübersteht.
Als könne er seine Gedanken lesen, sagt Pandrup: »Irina hatte keine Wahl. Entweder sie ging freiwillig mit, oder sie wäre ebenfalls als Volksfeindin festgenommen worden.Stepanowitsch hat zu ihr gesagt, entweder sie kooperiert oder er bringt ihre Affäre mit dir – einem bekannten
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