Die Wahrheit stirbt zuletzt
haben und dort niemand ihr Gepäck sehen wollte, sodass auch der in seine Einzelteile zerlegte Revolver ganz unten in seiner Reisetasche unentdeckt blieb, befinden sie sich jetzt irgendwo in Russland. Die Fahrt durch Weißrussland war lang und eintönig gewesen. Jetzt nähern sie sich Moskau.
An der polnisch-sowjetischen Grenze waren sie in einen anderen Zug umgestiegen. Svend hatte ihm erklärt, dass die russische Spurweite breiter sei. Es ist ein schöner alter Zug, in dem sie jetzt fahren. Ihr Abteil wirkt geradezu viktorianisch in seinem vorrevolutionären Stil mit den roten samtbezogenen Sitzen, die auch als Betten dienen, einem Waschbecken aus Messing und weißen gehäkelten Gardinen, die man nachts vor die großen Fenster ziehen kann. Im Speisewagen und auf den Gängen gibt es immer ausreichend Platz. Nur privilegierte Sowjetbürger oder wohlhabende Ausländer mit harter Währung können es sich leisten, auf der berühmten Strecke von Berlin über Warschau nach Moskau im vornehmsten Expresszug des Landes zu reisen.
Draußen ist alles weiß, und eine große Stille scheint über der eingefrorenen Landschaft zu liegen. Er denkt daran, dass es Nacht ist, aber der Morgen nähert sich ruhigund zuverlässig, und mit jedem Stoß, den die Räder an jeder Bahnschwelle zu ihm hinaufschicken, kommt er Irina und der großen Ungewissheit, wie sie ihm wohl begegnen wird, unaufhaltsam näher. In regelmäßigen Abständen hört er das warnende Tuten der Dampflok, wenn sie eine Straße kreuzen. Aber wer wird in einer so kalten und unwirtlichen Nacht schon unterwegs sein?
Die Menschen haben dicke graue und schwarze Kleidungsstücke übereinandergezogen. Die Männer tragen entweder Schiebermütze und Schal, den sie bis über beide Ohren geschlungen haben, oder große, dicke Pelzmützen, die Svend »Schapkas« nennt. Magnus ist dankbar, dass er Svends Rat gefolgt ist und sich in Berlin, wo es auch schon kalt war, aber doch harmlos verglichen mit der eisigen russischen Kälte, warme Oberbekleidung gekauft hat.
Die russischen Frauen sehen noch unförmiger und unattraktiver aus mit ihren hohen schwarzen Stiefeln und den Kopftüchern. In dem tiefen Schnee kommen sie nur mühsam voran, aber sie drehen sich dennoch um und starren dem langen Zug hinterher, der sich wie eine fremdartige schwarze Schlange in all dem Weiß ausnimmt.
Er ist noch nie irgendwo gewesen, wo die Kälte derart schneidend war, und es tut ihm leid zu sehen, wie verzweifelt sein Freund Svend angesichts der bitteren Armut ist, die hier auf dem Land herrscht. Man hat Svend zwar aus der kommunistischen Partei Dänemarks ausgeschlossen, aber wie alle Exkommunizierten klammert er sich an die reine Lehre. Er ist unglücklich über das, was er hier sehen muss.
Seine Augen seien noch dieselben, aber sie sähen nicht mehr dasselbe wie früher, hatte er traurig zu Magnus gesagt, als sie im warmen, hell erleuchteten Speisewagen beim Abendessen saßen und einen halbwüchsigen Jungen betrachteten, der von draußen auf ihre Mahlzeit starrte, während ihm der Rotz wie ein gelber Strom aus beidenNasenlöchern lief. Sein sehnsuchtsvoller Blick und sein apathisches Einverständnis mit seinem traurigen Schicksal hatten ihnen beiden den Appetit verdorben. Sie waren erleichtert, als sie das Pfeifen des Schaffners hörten, dicke Rauchwolken aus dem Schornstein der Lokomotive aufstiegen und der Zug seine Reise gen Osten über die unendliche weiße Steppe mit den nackten Birken und den Kieferngruppen fortsetzte, die als dunkle Flecken auf dem Weiß zu sehen waren.
Magnus kann nicht schlafen.
Seit Spanien ist die Schlaflosigkeit sein allzu treuer Begleiter geworden, und im Dunkeln kreisen die Erinnerungen an die chaotischen Ereignisse wieder und wieder in seinem Kopf. Wenn er die Augen schließt, sieht er die Toten und Verletzten des Bombenangriffs auf Albacete so deutlich vor sich, als wäre es gestern gewesen.
Er grübelt oft darüber nach, ob er Irina hätte aufhalten können, wenn er nicht losgegangen wäre, um Zigaretten zu kaufen, wenn er nicht Kaffee getrunken und Zeitung gelesen hätte, wenn der Bombenangriff ihn nicht daran gehindert hätte, zum Gran Hotel zurückzukehren. Wenn er aufmerksamer gewesen wäre und die Zeichen zu deuten gewusst hätte und wenn er Alfonso bei seiner Rückkehr ins Hotel zum Reden gebracht hätte. Er hatte ja das Gefühl gehabt, dass dieser etwas vor ihm verbarg – nämlich, dass Irina das Hotel mit ihrem Gepäck und in Begleitung von
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