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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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zittern und beben, denn allein die Tatsache, ihn gekannt zu haben, reicht schon aus, um verhaftet, verhört und erschossen zu werden. Es geht hier um Macht, Meyer. Um nichts anderes. Es geht darum, dass Stalin jetzt ein Diktator ist und die verbleibenden Rivalen und ihre Getreuen bis ins letzte Glied verbannen oder noch besser aus dem Weg räumen will. Manchmal glaube ich, dass der gute Führer Stalin erst dann sicher ist, dass niemand gegen ihn konspiriert, wenn er der letzte Mann ist, der in der ganzen fucking UdSSR noch übrig ist.«
    Keenan trinkt erneut einen großen Schluck von seinemWhiskey, genießt das Lachen seiner Trinkbrüder und schielt zu zwei Männern hinüber, die in einer Ecke sitzen und an ihrem Wodka nippen.
    »Da drüben sitzen zwei NKWD-Männer und tun so, als verstünden sie kein Wort Englisch. Ignoriert sie einfach. Uns Gentlemen der Presse wagen sie nicht so einfach festzunehmen, aber wenn es um ihre ausländischen Kameraden bei der Komintern geht, sind sie nicht so zimperlich. Die verschwinden ebenfalls in dem großen weißen Nichts. Wir haben gehört, dass es weit im Osten, in Sibirien, große Gefangenenlager geben soll, aber man erlaubt uns natürlich nicht, dorthin zu reisen. Wir haben auch gehört, dass Tausende von Menschen zur Zwangsarbeit verpflichtet werden und Kanäle graben müssen, bis das Blut spritzt. Diese neue schicke Metro, die Stalin in Moskau in Rekordzeit bauen lässt, wird ebenfalls mithilfe von Sklavenarbeit errichtet. Der Bau schreitet schnell voran, und da spielt es dann auch keine Rolle, dass die Armen, die die Arbeit machen, wie die Fliegen sterben – Hauptsache, die neuen Fünfjahrespläne werden erfüllt. Wie Stalin neulich so schön gesagt hat: Der Mensch ist nur ein winziges Rädchen im Getriebe der Revolution.«
    Paul Keenan ist ein alerter, schlanker Mann mit den Gesichtszügen und der Diktion eines New Yorker Juden. Er spricht leise, aber eindringlich und wedelt mit seiner Zigarre herum, wenn er etwas besonders hervorheben will. Magnus findet ihn wie auch andere amerikanische Reporter, die er kennengelernt hat, zynisch und desillusioniert, gleichzeitig aber auch intelligent und eigenständig in seinen Gedanken.
    »Ich habe in der deutschen Presse zwar einiges darüber gelesen«, sagt Magnus und trinkt einen Schluck, »aber ich habe trotzdem nicht richtig verstanden, was man den Schapatowos genau vorwirft.«
    »Es geht um Artikel 58«, erklärt Keenan. »Der wurde 1927 eingeführt, und Kamerad Stalin hat ihn letztes Jahr erneuert. Das ist so ein Gummiparagraph, der die Leute mit dem Tod oder Zwangsarbeit oder Verbannung bestraft, wenn man ihnen terroristische Handlungen gegen Mitglieder der Sowjetführung oder gegen die Sowjetunion als solche nachweisen kann. Und was könnte da zum Beispiel alles dazugehören, Meyer?«
    Der Amerikaner beantwortet sich die Frage selbst und zählt die einzelnen Vergehen an den Fingern ab, während er sie herunterleiert: »Der Artikel 58 umfasst vierzehn Unterpunkte. Soll ich Ihnen ein paar nennen? Da wäre zum Beispiel Hochverrat. Bewaffneter Aufstand. Spionage. Sabotage. Kontrarevolutionäre Propaganda – was auch immer das sein soll – und Kontakt zu kontrarevolutionären Organisationen. Das können Leute wie Sie und ich sein, also erwarten Sie nicht, dass es leicht sein wird, überhaupt jemanden zu finden, der mit Ihnen reden will. Und schließlich reicht sogar schon der Verdacht der Spionage aus, um jemanden zu verurteilen. Wenn man erst einmal auf der Anklagebank sitzt und einem der Artikel 58 vorgehalten wird, dann steht der Ausgang der Geschichte ohnehin schon fest. Man ist schuldig. Das Strafmaß kann unterschiedlich ausfallen. Sofortige Hinrichtung oder Arbeitslager und interne Verbannung. Verbannung ist ja ein bewährtes Mittel in diesem Land.«
    »Sie haben keine Chance. Ist es das, was sie damit sagen wollen?«
    »Exakt. Hat man sie erst einmal festgenommen, dann sind sie erledigt. Sie können genauso gut gleich ein Geständnis ablegen. Das erspart allen eine Menge Zeit und ihnen eine Menge Schmerzen. Und das tun sie dann auch – jedenfalls viele von ihnen.«
    »Sie legen ein Geständnis ab, obwohl sie gar nichts verbrochen haben?«
    »Sie werden natürlich gefoltert. Dann gestehen Menschen alles. Danach richtet man die armen Kerle, so gut es geht, wieder her, damit sie nicht allzu schrecklich aussehen, und setzt sie auf die Anklagebank. Und das Schuldeingeständnis liegt bereits vor. Der Verbrecher gibt sein

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