Die Wahrheit stirbt zuletzt
Vergehen zu und kann seinem Schöpfer mit reinem Gewissen gegenübertreten.«
»Aha«, sagt Magnus, der ein unbehagliches Gefühl in sich aufsteigen spürt und einen großen Schluck von seinem Drink nimmt, bevor er Keenan weiter zuhören kann.
»Es ist die reinste Gehirnwäsche. Das müssen Sie sich klarmachen, Meyer. Stalin macht auch vor den Parteimitgliedern nicht halt, die zu ihm aufschauen, als wäre er ein Gott. Es endet dann damit, dass sie selbst glauben, begangen zu haben, was ihre Quälgeister ihnen zur Last legen. Letztes Jahr habe ich miterlebt, wie ein hochrangiges Parteimitglied gestanden hat, ein Verbrecher zu sein, obwohl er gleichzeitig jede einzelne Straftat geleugnet hat. Sie haben ihn noch am selben Morgen erschossen. Wir haben es hier mit einem Land zu tun, in dem Stalin morgens beim Frühstück gern hundert Todesurteile unterschreibt, bevor er ins Büro geht. Ein scheußliches Land.«
»Und ein ziemlich gefährliches«, wirft Ian Fleming ein. »Hier ist es sinnvoll, immer mal wieder einen Blick über die Schulter zu werfen, Mr Meyer. Und jemanden bei sich zu haben, der einem den Rücken freihält. Hier herrscht das Recht des Stärkeren, und es gibt kaum Möglichkeiten, Einspruch einzulegen.«
»Aber das gilt doch wohl kaum für uns?«
»Seien Sie sich da mal nicht zu sicher. Stalins gedungene Mörder sind ebenso effektiv und rücksichtslos wie die organisierten Verbrecherbanden und Familien daheim in Mr Keenans New York. Es kann einem nur zu leicht ein Unglück zustoßen. Ich habe schon oft gedacht, dass dashier ein gefundenes Fressen für einen Romanautor sein müsste. Gestatten die Herren, dass ich die nächste Runde übernehme?«
Als Magnus später im Bett liegt, muss er an Flemings Worte denken. Er fühlt sich in Moskau nicht wohl. Es ist eine bedrohliche und fremde Welt, in der er weder die Sprache noch die Umgangsformen versteht. Auf ihre Weise ist sie ebenso brutal und blutig wie das Spanien, das er so überstürzt verlassen hat. Er kann trotzdem gut verstehen, dass Irina gern in Spanien leben würde. Allein schon wegen der Sonne und des Essens lohnt es sich, dorthin zu ziehen, wenn dort erst einmal der Frieden Einzug gehalten hat. Sie könnten in Spanien glücklich werden, wenn es Irina gelänge, sich aus jener Zwangsjacke zu befreien, die sie an Russland bindet.
Schließlich fällt er doch in einen unruhigen Schlaf. Er träumt von Irina. Es ist ein seltsamer Traum, in dem er versucht, sie zwischen unförmigen meterhohen Eisformationen auf der Moskwa zu fangen. Sie verschwindet immer wieder hinter neuen Eiswällen, um ihn dann mit einem verführerischen Lächeln auf dem Gesicht zu sich heranzuwinken. Er kann sich kaum rühren, bewegt sich mit bleiernen Beinen vorwärts, scheint auf dem Eis festzukleben. Er will etwas rufen, bekommt aber keinen Ton heraus. Seine Stimmbänder sind eingefroren. Auf einmal taucht Joe Mercer auf. Er fischt gerade in einem Eisloch, steht dann aber auf. Sein Mund ist wie der eines Zirkusclowns geschminkt. Er lacht laut und gellend und zieht an einem großen Fleischerhaken einen Kopf aus dem schwarzen Wasser. Es ist Magnus’ eigener Kopf, dessen Gesicht zu einem wahnsinnigen Lachen oder einem Schrei verzerrt ist. Der Kopf lebt, auch wenn Unmengen Blut aus dem abgehackten Hals herausströmen.
Er wacht schweißgebadet auf und zittert am ganzen Körper. Er liegt eine Weile einfach nur da, bis sein Herzschlagwieder zur Ruhe gekommen ist, dann steht er auf, um ein Glas Wasser zu trinken.
Er schiebt die Gardine ein wenig zur Seite. Draußen ist es stockdunkel. Ein großer geschlossener Wagen mit abgeblendeten Scheinwerfern fährt auf dem Platz vor dem Hotel vorbei. Wie hatten die Kollegen in der Bar diese Autos noch mal genannt? Woronka hatten sie dazu gesagt. Das bedeutet Krähe, erinnert er sich, weil sie schwarz sind und in der Nacht oder ganz früh am Morgen kommen und die Leute aus ihren Wohnungen abholen. Es klopft plötzlich an der Tür, und wenn man Glück hat, darf man noch schnell auf Wiedersehen sagen und eine kleine Tasche packen, bevor man von schweigenden Männern in Zivil nach unten gebracht wird. Die Verhafteten müssen während der Fahrt in kleinen Maschendrahtverschlägen stehen, in denen sie fast nichts sehen und sich nicht bewegen können. Die, die zuerst abgeholt wurden, müssen stundenlang darin ausharren, während die Krähe ihre gefürchtete nächtliche Runde dreht.
In den dunklen Wohnungen schlafen die Menschen nicht, sondern warten
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