Die Wahrheit stirbt zuletzt
geschrieben und flehentlich darum gebeten, den großen Lenin so zu konservieren, dass auch kommende Generationen ihn sehen können. Irgendwann – hoffentlich erst in vielen Jahren – wird Stalin neben Lenin zur letzten Ruhe gebettet werden, damit diese großen Kämpfer der Menschheitsgeschichte für immer unter uns bleiben.«
»Manchmal klingst du wirklich wie ein katholischerPriester, Svend«, sagt Magnus und geht jetzt schneller. Svend liegt eine Entgegnung auf der Zunge, aber er schweigt und deutet in Richtung des Flusses, der vor ihnen liegt.
Die Moskwa ist von weißgrauem Eis bedeckt, das sich an manchen Stellen zu merkwürdigen Formationen aufgetürmt hat. Eine Brücke führt auf die andere Flussseite hinüber, und weiter hinten wird gerade eine neue Brücke errichtet. Auf der Brücke sind einige schwarze Autos, mehrere Pferdegespanne und ein dichter Fußgängerstrom unterwegs, aber Svend biegt nach rechts ab, geht weiter an der Kremlmauer entlang. Der zugefrorene Fluss liegt jetzt zu ihrer Linken. Drei Männer sitzen vor Löchern im dicken Eis und angeln. Das Ufer ist von dicken Steinen gesäumt, an denen das Eis hinaufzuklettern scheint.
Sie steigen eine Treppe hinauf, bleiben auf der Brücke stehen. Svend zeigt zu einem wuchtigen grauen Gebäude hinüber. Die kleineren Häuser daneben scheinen sich geradezu schamhaft verstecken zu wollen. Das Gebäude erinnert an eine Art moderne Festung mit vier Türmen, die jeweils zwölf Stockwerke haben. Bis zur sechsten Etage sind sie miteinander verbunden und umschließen so einen großen gemeinsamen Innenhof. Der gesamte Komplex muss riesig sein.
»Man nennt es das Regierungshaus«, erklärt Svend. »Es hat Hunderte von Wohnungen. In einer von ihnen befindet sich vielleicht Irina.«
»Aber wo?«, sagt Magnus und spürt trotz der Kälte, die ihn in einen Eiszapfen zu verwandeln droht, auf einmal Wärme in sich aufsteigen.
»Das weiß ich nicht. Ich war noch nie drinnen. Dafür bin ich nicht fein genug. Es ist ein Haus, in dem nur die höchsten Kader der Partei und die größten Künstler des Landes wohnen dürfen. Es gibt dort wirklich alles. Es muss großartig sein. Ein Sieg des Sozialismus.«
»Lass uns hinübergehen.«
»Wenn du willst.«
»Du zögerst?«
»Es stehen bestimmt Wächter davor, und die Aufzüge werden mit Sicherheit kontrolliert. Wenn wir kein offizielles Anliegen nachweisen können, werden wir den Hof gar nicht betreten dürfen, und das Gebäude selbst erst recht nicht. Außerdem werden wir beobachtet. Seit wir das Hotel verlassen haben, habe ich dieselben beiden Männer jetzt schon viermal gesehen. Dreh dich nicht um. Der eine steht hinter uns und der andere wartet vor uns auf der anderen Seite der Brücke. Er muss den Fluss beim Roten Platz überquert haben.«
Magnus schaut nach vorn. »Was glaubst du, wer das ist?«, fragt er und wünscht sich, er hätte seinen Revolver mitgenommen. Aber das hat er sich in dieser fremden Stadt trotz allem nicht getraut. Die Waffe liegt noch immer in ihre Einzelteile zerlegt in seiner Reisetasche.
»Männer vom NKWD, vermute ich. Du bist ein neuer Journalist in der Stadt. Sie wollen vermutlich überprüfen, ob du nicht doch ein imperialistischer Spion bist.«
»Leidet dein Arbeiter- und Bauernstaat an Verfolgungswahn, Svend, oder was ist hier los?«
»Die Sowjetunion hat viele Feinde. Das ist ein ganz gewöhnlicher Vorgang.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Magnus mit gesenkter Stimme. Aber wer sollte hier schon Dänisch verstehen?
»Wir drehen um«, schlägt Svend vor und seine Stimme bebt ein wenig, aber Magnus kann nicht erkennen, ob ihm irgendetwas Angst macht oder ob es wegen der Kälte ist. »Ich werde ins Hotel Lux hinübergehen und sehen, ob ich dort ein paar alte Kameraden antreffe, du wirst also eine Weile allein zurechtkommen müssen.«
»Ich bin schon ein großer Junge.«
»Das bist du. Vielleicht sehen wir uns ja auch erst morgen früh wieder. Ich werde versuchen, etwas herauszubekommen. Und es ist sicher am besten, wenn ich das allein tue. Du fällst einfach zu sehr auf.«
Magnus wirft noch einen letzten Blick zu dem Gebäude hinüber. Irina ist auf einmal so nah und doch so unerreichbar. Wenn Svend nicht gewesen wäre, hätte er bestimmt versucht, sie zu finden, aber er muss sich gedulden. Es ist furchtbar, zu wissen, dass sie in derselben Stadt ist, vielleicht sogar in dem Haus vor ihm, und doch kann er sie nicht in die Arme schließen und mit ihr schlafen.
Am Abend geht
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