Die Wahrheit stirbt zuletzt
tatsächlich bei ihm angekommen sind. Solide Stiefel. Die anderen haben sie ihm gestohlen, während er schlief. Stell dir das mal vor. Ist das internationale Solidarität? Einander die Stiefel zu stehlen?«
»Was sie da wohl zensiert haben?«
»So ist das jedes Mal. Er darf nicht schreiben, wo er sich aufhält. Es muss irgendwelche Dänen geben, die die Briefe lesen, bevor sie losgeschickt werden. So habe ich es mir zumindest erklärt, aber jetzt lies weiter. Es ist ganz kurz.«
»Was meint er denn mit Thälmann?«
»Das ist sein Bataillon. Die Internationalen Brigaden sind in Bataillone aufgeteilt. Viele Dänen und andere Skandinavier kämpfen in dem, das nach Thälmann benannt ist. Aber jetzt lies endlich, Magnus.«
Er liest:
»… vor drei Tagen kamen wir von der Front zurück. Wir haben harte Tage hinter uns, die Faschisten hätten uns beinahe besiegt, aber wir haben ihnen dann doch standgehalten. Einige meiner guten Kameraden mussten leider daran glauben. Krieg ist ein übles Geschäft, Schwesterherz, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass wir das Richtige tun. Heute weiß ich, dass die ganze Welt eine einzige Front ist – für und gegen das herrliche Leben, das die Menschen führen könnten. Das versuche ich auch den Kameraden klarzumachen, denn wir sind leider nicht immer einer Meinung in unserer gemeinsamen Front gegen den Faschismus. Aber wenn es uns nicht gelingt zusammenzuhalten, dann gewinnen mit Sicherheit die Faschisten. Das Leben ist groß, Schwesterherz – es ist das Größte, aber es verliert seine Bedeutung, wenn man nicht für das kämpft, was einem etwas bedeutet. Das Leben bleibt nur dann etwas Kostbares, wenn man bereit ist, das größte Opfer dafür zu bringen, dass alle Menschen anständig leben können. Ich weiß, dass es schwer ist für Dich und andere, die mich gernhaben, aber ich bin mir sicher, dass Du mich verstehst.
Ich hoffe, es geht Dir gut. Vermutlich wird es in Dänemark schon langsam Herbst, wenn Du diesen Brief bekommst. Hier ist es noch immer sehr, sehr warm, aber die Alten sagen, dass es richtig kalt werden kann in Spanien. Wir wohnen in einigen vornehmen alten Villen, deren Besitzer geflohen sind oder vertrieben wurden, und gehen dreimal am Tag in die Kirche. Aber nicht etwa, weil Dein kleiner Bruder plötzlich gläubig geworden wäre, sondern weil die hiesige Kirche wie alle anderen auch jetzt als Speisesaal dient. Der Suppentopf steht jeden Tag auf dem Altar. Die Suppe essen wir zusammen mit Erbsen und Brot, und oft gibt es Wein dazu. Wir können also nichtklagen über die Verpflegung hier. Kaffee bekommen wir auch fast jeden Tag, sonst werden wir Dänen nämlich ungehalten. Das haben sie inzwischen gelernt. Unsere schwedischen Kameraden sind da gelassener, aber wir wollen unseren Kaffee haben.
Küsse für Dich und alle, die ich gernhabe. Du kannst auch Vater gern von mir grüßen, wenn Du meinst, dass mein Gruß es wert ist. Wenn Du die Möglichkeit hast, schick mir gern etwas Tabak oder Seife. Schokolade ist hier auch immer sehr willkommen.
Schreib einfach wie immer an Mads Meyer, S. R. I. Plaza del Altozano, A. V. 11. Albacete, Spanien.
Dein Dich liebender Bruder Mads
»Er raucht jetzt auch«, sagt Marie.
»Deswegen müssen wir uns, glaube ich, keine Sorgen machen.«
Sie lacht halbherzig und verschränkt die Arme vor der Brust: »Nein. Er ist nur auf einmal so erwachsen geworden.«
»Er ist ein Narr von bald einundzwanzig Jahren.«
»Magnus!«
»Das ist er.«
»Vielleicht ist er einfach ein Idealist, der mehr an andere als an sich selbst denkt.« Sie wendet sich halb von ihm ab, die Arme weiterhin vor der Brust verschränkt.
»Genau. Das ist es ja, was ich meine.«
»Vielleicht hast du recht, aber ich bin auch ein bisschen stolz darauf, dass er etwas tut und nicht einfach nur zusieht. Viel zu viele sehen einfach nur zu. Wir tun es. Frankreich und England tun es. Hitler kann machen, was er will. Er marschiert in andere Länder ein, und bedenke nur, wie sie die Juden behandeln. Niemand außer Stalin unterstützt die legal gewählte Regierung in Spanien, währenddie Faschisten von Hitler und Mussolini so viele Waffen bekommen, wie sie wollen. Das ist falsch. Nur Menschen wie Mads unternehmen etwas dagegen.«
»Trotzdem soll ich Mads nach Hause zurückholen? Das ist es doch, was du willst, oder?«
Sie lässt die Arme sinken, dann senkt sie den Kopf und scheint eine Niederlage eingestehen zu müssen, die sie sich lieber erspart hätte: »Im Unterschied
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