Die Wahrheit stirbt zuletzt
hatte, war ein wenig Schokolade, Brot und etwas Wasser. Aber sie haben es trotz allem über die Berge geschafft, Mads und die anderen. Ein paar Tage lang haben sie in einem Ort namens Figueras in einer alten Maurenburg gewohnt, danach wurden sie nach Barcelona geschickt, wo Mads an einer Parade teilnahm und von den Einwohnern der Stadt bejubelt wurde, bevor es nach Albacete weiterging, das weiter südlich liegt. Dort haben sie ihm Waffen und eine Art Uniform gegeben, einen blauen Overall, den sie ›mono‹ nennen, zwei Trinkbecher, einen für Wasser und einenfür Cognac. Stell dir das mal vor, für Cognac. Einen Beutel mit Essen haben sie auch noch bekommen sowie Munition und ein bisschen militärisches Training, und schon ging es los an die Front. Ist das nicht unglaublich? Unser Mads. ›Und dann ab an die Front‹, hat er in einem seiner ersten Briefe geschrieben. Als würde er mir eine Ferienpostkarte aus Hvide Sande schicken. ›Hallo, Schwesterherz. Hier ist es schön. Ich gehe jetzt an den Strand.‹«
Magnus nimmt sie in den Arm und wartet, bis sie fertig ist mit Weinen. Er nimmt ihr die Zigarette aus der Hand, drückt sie und seine eigene aus. Als Marie aufgehört hat zu weinen, lässt er sie einen Moment zur Ruhe kommen. Sie dreht sich um und verlässt das Zimmer, und er hört, wie die Badezimmertür leise zufällt. Er geht in sein Zimmer, holt die Whiskyflasche und zwei Gläser. Marie kommt zurück, er schenkt ihr ein, reicht ihr das Glas, und sie trinkt einen kleinen Schluck. Er sieht sie an, sie nimmt einen weiteren Schluck und verzieht ein wenig den Mund.
»Danke«, sagt sie und dreht sich zur Spanienkarte auf dem Tisch um. »Jetzt hätte ich gern eine Zigarette.«
»Du musst mir nicht noch mehr von den Ereignissen da unten berichten«, sagt er und gibt ihr Feuer, aber sie ignoriert ihn und zeigt auf die Karte.
»Hier ist Albacete. Dort befindet sich das Hauptquartier der Internationalen Brigaden. Ich zeichne dir den Frontverlauf mit Bleistift ein. Wie du sehen kannst, läuft es gar nicht so schlecht für sie, auch wenn die Republik unter Druck steht. Madrid hält nach wie vor stand. Es hat Offensiven gegeben, an denen die Freiwilligen beteiligt waren, und nicht nur Rückzugsgefechte. Und an anderen Frontabschnitten hat man den Vormarsch der Faschisten stoppen können. Hörst du zu, Magnus?«
Er folgt ihren Ausführungen nur mit halbem Ohr. Sie sind kompliziert und voller Details über große und kleine Gefechte. Er hat den Eindruck, dass das alles ihremWunschdenken entspricht. Sie verfügt über genaue Kenntnisse ferner Frontabschnitte und kleiner spanischer Dörfer, über die der Krieg hinweggerollt ist, aber sie sieht jeden Meter, den die Republik erobert hat, als einen endgültigen Sieg an und jeden Verlust an Boden nur als einen vorübergehenden Rückschlag. So, wie er die Karte interpretiert, ist die Republik bereits dem Untergang geweiht.
Francos nationalistische Aufständische haben den Großteil des Landes unter Kontrolle. Die Hauptstadt Madrid wird verbissen verteidigt, aber für ihn sieht es so aus, als ob es nur eine Frage der Zeit ist, bis Franco die Nordküste ebenfalls unter seine Kontrolle bringt, und dann bleiben der Republik nur noch die Gebiete östlich von Madrid. Von der Spitze von Gibraltar bis zur Biskaya werden die Aufständischen den Großteil des Landes und einige der wichtigsten Industriegebiete erobern, und es wird nicht lange dauern, bis sie die Soldaten der Republik ins Mittelmeer hinausdrängen. Bald wird Franco nicht mehr an zwei Fronten Krieg führen müssen. Das wird der Anfang vom Ende sein. Magnus wird schlagartig klar, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Für Mads ist der Sand in der Sanduhr bald durchgelaufen.
Marie richtet sich auf, zieht an ihrer Zigarette und stützt die andere Hand in die Hüfte, wobei sie den Rücken durchdrückt. »Ich glaube daran, dass es gelingen kann, die Faschisten zu stoppen. Ich will daran glauben.«
»Du bist schon merkwürdig, Schwesterherz. Du setzt dich mit großer Leidenschaft und großem Wissen mit dem Krieg auseinander, aber gleichzeitig ist es doch eine sehr persönliche Angelegenheit, nicht wahr?«
»Wie meinst du das?«
»Das weißt du doch. Es geht dir doch nur darum, dass Mads nach Hause zurückkommt, aber du bist dir nicht sicher, ob er das auch will, und deshalb tust du so, als könne er zum Sieg der Republik beitragen. Du verfolgstdas alles so intensiv, weil du auf diese Weise vermeiden kannst, an Mads als
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