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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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nicht trösten, und er will ihn nicht verurteilen. Er will Poulsen nicht aus dem moralischen Dilemma befreien, in dem er gefangen ist. Er will sich nicht in das komplizierte Verhältnis hineinziehen lassen, das zwischen Marie und Svend besteht. Es ist eine Liebesbeziehung, die zum Tode verurteilt ist. Sie hat vom ersten Tag an von geborgter Zeit gelebt.
    Poulsen steht auf und dreht Magnus halb den Rücken zu und sagt: »Ich weiß nicht, ob ich deine Schwester liebe.Manchmal glaube ich, dass ich es tue. Ich weiß nur, dass ich sie begehre, wie ich noch nie zuvor eine Frau begehrt habe.«
    »Anscheinend hat Marie immer diese Wirkung auf Männer«, sagt Magnus und fährt mit derselben Grausamkeit fort: »Wenigstens bist du klug genug, Begehren nicht mit Liebe zu verwechseln.«
    »Nicht immer.«
    »Dann wird es irgendwann wehtun.«
    »Aber es hat mir auch gutgetan. Sollen wir zurückgehen? Jetzt gebe ich ein Bier aus.« Er wirft seinen Zigarettenstummel in den Fluss.
    Magnus sieht, wie eine Stromschnelle den Stummel erfasst und ihn herumwirbelt, bis er kurz freikommt, dann wieder an der Stromschnelle hängen bleibt, erneut im Kreis gedreht wird und aus Magnus’ Gesichtsfeld verschwindet.
    Sie gehen schweigend in Richtung Stadt zurück. Als sie die Spitze des Kirchturms sehen können, fängt Poulsen wieder an zu sprechen. Er erzählt Magnus, dass er nach Aalborg ziehen werde, wo seine Frau und seine Kinder leben. Magnus ist klar, dass das Poulsens Art ist, deutlich zu machen, dass er das Gespräch von vorhin bitte nicht überbewerten möge. Magnus weiß nicht, ob er ihm glauben soll. Poulsen ist ein Mann, der aussortiert wurde und der jetzt im Fluss herumtreibt wie ein Zigarettenstummel. Er hat seinen Kompass verloren und muss jetzt auf eigenen Füßen stehen, aber das sagt Magnus nicht zu ihm. Er hört zu, ohne das Gehörte zu kommentieren.
    Poulsen hat in einer Zweizimmerwohnung über der Redaktion der Arbeiterzeitung gewohnt. Als er aus Spanien zurückgekehrt ist, haben sie hier in der Stadt einen neuen Redakteur gesucht, und die Partei hat ihn hierher geschickt. Es sollte von vornherein nur für begrenzte Zeit sein, aber es sollte natürlich nicht auf diese Weise enden.Er ist immer dahin gegangen, wo die Partei ihn hinbeordert hat, ob nach Russland oder in eine Provinzstadt, in der er eine Abteilung der Partei organisieren oder die tägliche Agitation leiten sollte. Ingeborg, seine Frau, ist daran gewöhnt, dass er häufig nicht da ist. Es ist, wie mit einem Seemann verheiratet zu sein.
    Poulsen hat manchmal ein schlechtes Gewissen, dass er seine Kinder so selten sieht. Die beiden Jungen sind fünf und sieben Jahre alt. Sie kennen ihren Vater kaum, muss er zugeben. Er erzählt Magnus nicht besonders viel über Ingeborg. Sie haben sich bei einem Ball kennengelernt. Sie begleitete einen Parteigenossen, war aber selbst nicht Parteimitglied. Sie wurden ein Paar, und als sie schwanger wurde, haben sie standesamtlich geheiratet. Die Partei hat ihnen geholfen, eine Genossenschaftswohnung zu bekommen. Wegen der Kinder wollte sie ihn nicht nach Russland begleiten. Ihr Vater ist Prokurist in einer Firma im Aalborger Hafen, ihre Mutter arbeitet nicht, sondern hilft ihrer Tochter, daher bleibt Ingeborg in der Stadt.
    Poulsen spricht ganz offen. Er liebt sie nicht, und er ist sich auch nicht sicher, ob sie ihn noch liebt. Sie sind gute Freunde. Sie haben auch schon überlegt, sich scheiden zu lassen, aber er will auf jeden Fall für seine Kinder aufkommen. Er will nach Aalborg reisen und sehen, was passiert, denn hier in der Stadt hat er kein Dach mehr über dem Kopf. Er glaubt nicht, dass ihre Ehe halten wird. Er weiß nicht mehr, woran er glauben kann und woran nicht. Er hat ja immer getan, was die Partei von ihm verlangt hat. Zeig mir einen Weg auf, und ich werde diesen Weg treu beschreiten. Ob er mich nun nach Moskau führt oder nach Aalborg.
    »Oder nach Spanien?«, fragt Magnus.
    »Oder nach Spanien«, antwortet Poulsen und greift mit seiner Linken nach seinem rechten Armstummel, und Meyer empfindet erstaunlich große Sympathie für ihn.
    »Und jetzt wirst du dorthin reisen, Magnus. Es ist ein schlimmes Land. Es kommt mir so vor, als seien die Spanier in den Tod verliebt. Deswegen haben sie wahrscheinlich auch den Stierkampf erfunden. Die Regierung hat ihn verboten, aber es gibt ihn dennoch. Und überall schreiben oder skandieren sie ›viva la muerte‹ bis in alle Ewigkeit. Jetzt kann ich es ja sagen: Mir war ganz übel

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