Die Wahrheit stirbt zuletzt
Artillerie und Tausende von marschierenden Soldaten ein gewaltiges Verkehrschaos verursachen, das die überforderte Verkehrspolizei vergeblich aufzulösen versucht. Aus den Bars und Restaurants strömt der Geruch von Knoblauch und Wein und vermischt sich mit dem Gestank von Dieselqualm und Pferdemist.
»Die Republik bereitet eine Offensive vor«, sagt Joe Mercer und fächelt sich mit seinem Hut Luft zu. Die Sonne steht hoch am Himmel und lässt die Temperatur allmählich ansteigen. »Was wir hier sehen, sind die regulären spanischen Truppen. Ich bin mir sicher, dass sie auf dem Weg gen Norden sind.«
Magnus schaut sich um und hört die lauten spanischen Kommandorufe. An einer Ecke der staubigen Provinzhauptstraße stehen vier der neuen T26-Panzer aus der Sowjetunion neben drei Lastwagen, die jeweils eine Kanone ziehen. Ein Maulesel ist vor einen kleinen Wagen gespannt, auf dem sich ein schweres Maschinengewehr befindet. Ebenfalls ein russisches Fabrikat. Vielleicht bekommt die Republik jetzt doch noch moderne Waffen.
Er hört ein lautes Heulen und sieht ein Pferd in die Knie gehen, das ein weiteres schweres Maschinengewehr auf einem Karren gezogen hat. Das eine Vorderbein des Pferdes sieht ganz verdreht aus. Der Kutscher springt ab, befreit das Pferd von seinem Zaumzeug, tritt einen Schritt zurück, lädt sein Gewehr und schießt das Pferd in den Kopf. Der Schuss hallt laut wider, und ein leiser Schreck scheint die Soldaten zu erfassen. Wenn sie nicht gerade ängstliche Blicke zum blauen Himmel hinaufwerfen, umzu sehen, ob die Luftwaffe der Faschisten auf dem Weg ist, marschieren sie mit starr nach vorn gerichteten Köpfen, den Blick auf den Kameraden vor ihnen geheftet. Drei Männer springen von einem Küchenwagen ab und beginnen sofort damit, das tote Pferd mitten auf der Straße zu zerlegen. Über den Gestank von Menschenexkrementen und Schweiß hinweg riecht Meyer das Blut und den Darminhalt des Pferdes.
Juan Montero manövriert seinen Wagen um das tote Pferd herum, in eine Seitenstraße hinein und von dort aus zurück auf die Hauptstraße, wo die Infanterie ihnen in Einerkolonnen langsam entgegenkommt. Nach einigen hundert Metern müssen sie wieder anhalten, um einer weiteren Lastwagenkolonne Platz zu machen. Sie kommen gerade vor einer kleinen Plaza zum Stehen, als plötzlich eine Frauenstimme ertönt: »Joe! Hallo, Joe. Was machst du denn hier?«
Die Stimme gehört einer zierlichen Frau, die am Rande der Plaza steht. Magnus ist ganz in den Bann geschlagen von ihrem Anblick. Sie ist schlank und hat lange Beine, kurz geschnittenes, braun gelocktes Haar und helle blaue Augen in einem feinen, schmalen Gesicht mit einem lächelnden roten Mund. Obwohl sie eine weite khakifarbene Hose und ein Herrenhemd trägt, kann er ihren schönen, wohlgeformten Körper unter der männlichen Kleidung erahnen. Sie ist vermutlich etwa in seinem Alter. Ein kleiner Rucksack lehnt an ihrem Bein, sie hat eine Leica-Kamera um den Hals und eine Tasche über der Schulter hängen. Sie hebt den Rucksack auf, läuft mit leichten Schritten zu ihnen herüber und stellt sich auf das Trittbrett des Wagens. Sie hat eine bezaubernde sinnliche Ausstrahlung, die ihr nicht bewusst zu sein scheint, wodurch sie noch verführerischer wirkt.
Joe erhebt sich im Wagen und sagt, nachdem sie sich wie echte Spanier auf die Wangen geküsst haben: »Irina,mein Schatz. Was zum Teufel macht meine kleine Lieblingsbolschewikin denn in diesem Kaff?«
Sie hebt die Kamera in die Höhe: »Ich mache meine Arbeit. Und wo wollt ihr hin?«
»Nach Albacete.«
»Fantastisch. Da will ich auch hin. Was hältst du davon, einer jungen Dame eine Mitfahrgelegenheit anzubieten?«
»Selbstverständlich, meine Schöne.«
Magnus betrachtet beide neugierig. Irina spricht Englisch etwas langsam und mit russischem Akzent, aber korrekt. Sie springt vom Trittbrett, damit Mercer die Tür öffnen kann, wirft Montero ein »Hola compañero« zu und setzt sich so hin, dass sie Magnus und Joe gegenüber und mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt.
»Darf ich dir Magnus Meyer, meinen Kollegen und Freund, vorstellen? Und das ist Irina Schapatowa aus dem Reiche Stalins, meine russische Kollegin, leider nur Freundin und noch immer nicht Geliebte. Sie macht Fotos vom gerechten Kampf.«
Sie reicht ihm die Hand. Magnus blickt in ihre klaren hellblauen Augen und sieht das neckende Lächeln, das in ihnen liegt. Er glaubt nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber er kann die unwillkürliche
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