Die Wahrheit stirbt zuletzt
Anziehung, die er gegenüber dieser russischen Fotografin empfindet, nicht rational erklären. Er fühlt sich stark und schwach zugleich und noch dazu verlegen. Er hat Lust, die weichen Lippen zu küssen, zwischen denen die Zigarette steckt, die Mercer ihr angezündet hat, und er hat Lust, ihren zarten Körper in seine Arme zu schließen. Es sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich, sich wie ein schüchterner Schuljunge zu fühlen, nur weil ihm eine attraktive Frau gegenübersitzt.
Während Montero das Auto an einem Lastwagen, der mit gebrochener Hinterachse liegen geblieben ist, vorbeimanövriert und weiter die Landstraße entlangfährt, sprechen Joe und Irina über den Krieg und Madrid, das sievor einigen Tagen verlassen hat. Sie haben viele gemeinsame Bekannte, die Namen wirbeln nur so durch die Luft. Irina hat erst vor Kurzem Nordahl Grieg für eine russische Literaturzeitschrift fotografiert. Sie hat auch eine Reportage über die Kommunistin, Parteiführerin und Agitatorin namens La Passionara gemacht, die sie beide kennen. Sie tauschen Anekdoten über Bars, Hotels und Restaurants aus und über die noch immer anhaltenden Bombenangriffe. Ihr Gespräch plätschert so leicht und elegant dahin, dass Magnus innerlich vor kindlicher Eifersucht bebt. Der flirtende Ton zwischen ihnen gefällt ihm gar nicht. Sie kennen einander eindeutig viel zu gut und plaudern völlig unbeschwert miteinander. Irinas Englisch klingt ein bisschen nach britischem Internat. Erfahren spritzt sie sich den Weinstrahl aus dem Ledersack in den Mund und reicht ihn an Magnus weiter, der ebenfalls daraus trinkt, dabei aber ein paar Tropfen verschüttet.
Sie lacht: »Es ist gar nicht so leicht, wie es aussieht, Herr Meyer.«
»Nenn mich doch einfach Magnus.«
»Magnus? Das ist ja ein lustiger Name. Wo kommt der Herr denn her?«
»Aus Dänemark.«
»Dänemark? Das ist ein kleines Land.«
»Von der Fläche her ja. Von seinem Selbstverständnis her ist es dagegen ein sehr großes Land.«
»Ist das wirklich so?«
»Ja. Das ist es. Du sprichst ein sehr gepflegtes Englisch. Wo hast du es gelernt?«
»In London. Als ich ein junges Mädchen war, habe ich mit meinen Eltern einige Jahre in London gelebt.«
Mercer mischt sich ein: »Irinas Vater ist eine ganz große Nummer in Moskau.«
»Er war Diplomat, und jetzt dient er nach Kräften in Moskau der Revolution, Joe. In meinem Land gibt es keineKlassen mehr. Wir schaffen eine neue Gesellschaft. So, wie sie es hier auch versuchen.«
Magnus fällt auf, dass sie wegschaut, als sie das sagt, und es kommt ihm so vor, als lege sich ein Schatten auf ihre Augen, ein Schleier der Besorgnis, der ihren Glanz dämpft.
Mercer sagt: »Natürlich, Baby. Das wissen wir doch. Was willst du denn in Albacete?«
»Dasselbe wie ihr. Der Rote Stern möchte eine Bilderserie vom Alltag der Brigadisten in der Stadt haben, bevor sie an die Front geschickt werden.«
»Heroische, solidarische junge Männer, die mit erhobenem Haupt und geradem sozialistischem Rücken gegen die Faschisten in den Krieg ziehen. Die nicht betrunken sind und niemals ins Bordell gehen.«
»Du musst dich gar nicht darüber lustig machen, Joe. Jeder von uns hat hier seine Rolle zu spielen.«
»Natürlich, Baby. Natürlich.«
Montero hat den Wagen inzwischen um alle Hindernisse herumgesteuert, und sie fahren jetzt bergauf. Magnus kann in der Ferne die Berge sehen, deren Steigung hier allmählich beginnt. Der Weg schlängelt sich in weichen Kurven dahin, und die Landschaft hat wieder ihren Charakter verändert. Jetzt fahren sie an Kiefern und anderen Nadelbäumen vorbei, dazwischen sieht er ab und zu grünes Gras und fühlt sich an norwegische Bergwiesen erinnert. Mercer lehnt den Kopf nach hinten und zieht sich den Hut über die Augen.
Magnus sieht Irina an, die ihm ein kleines Lächeln schenkt. Magnus macht eine einladende Geste mit der Hand, als habe er die schöne Gegend für sie bestellt, und sagt, ohne darüber nachzudenken, auf Spanisch: »Ich bin vollkommen erstaunt und beeindruckt von der Schönheit dieses gequälten Landes. Die Landschaft scheint sich permanent zu verändern und wie das Licht immer wieder einen ganz anderen Charakter anzunehmen.«
Irina antwortet ihm in derselben Sprache, was ihn sehr freut. So haben sie eine gemeinsame Sprache, an der Mercer nicht teilhat: »Dieses Land ist schön und grausam. Brutal und freundlich zugleich. Die Spanier sind wunderbare Menschen, und gleichzeitig sind sie in der Lage, unvorstellbare
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