Die Wahrheit stirbt zuletzt
und rote Wangen bekommt und davon träumt, mit seinem Verehrer im Dreispänner umherzufahren.«
»Hast du denn einen?«
»Ich habe hoffentlich viele, Magnus. Oder findest du mich etwa hässlich?«
Er merkt zu seinem Entsetzen, dass er rot wird, und zu seinem noch größeren Entsetzen, dass sie es bemerkt und lachen muss. »Nein. Natürlich nicht …«
»Ich bin ja nicht so fein angezogen wie deine eleganten Damen in Buenos Aires. Solche Kleider habe ich nicht.«
»Du siehst auch so sehr schön aus. Das war es auch gar nicht, was ich meinte.«
»Was meintest du denn?«
»Bist du verheiratet?«
»Nein.«
»Bist du verlobt?«
»Das gibt es bei uns nicht mehr, Magnus. Das war nur in früheren Zeiten üblich. Das ist etwas für die Grafen und Gräfinnen in Tolstojs Romanen.«
»Dann bist du also nicht verlobt?«
»Nein«, lacht sie. »Ich habe viele Verehrer, aber keinen bestimmten, dem ich den Vorzug gebe. Du kannst dich also gern in die Schlange einreihen.«
Er sieht sie verblüfft an: »Wie meinst du das?«
»Wenn es dich wirklich interessiert, wirst du es schon noch herausfinden.«
Sie knufft Joe in die Seite und fährt auf Englisch fort: »Lass uns ein Lied für Magnus singen. Komm schon, Joe, wach auf.«
Mercer schiebt den Hut aus dem Gesicht und sagt: »Ich habe nicht geschlafen. Wie soll man auch schlafen, wenn ihr auf Spanisch herumschnattert wie zwei Kindergartenkinder? Okay. Lass uns den Brigaden huldigen, Irina. Adelante!«
Sie beginnen zu singen. Irina gibt den Ton vor, und obwohl Joe kein Spanisch spricht, kann er den Text des populären Liedes über die 15. Brigade offensichtlich auswendig. Ihre Stimmen passen gut zusammen, Irinas schöne Kontraaltstimme und Joes klassischer Tenor. Für einen Moment fühlt sich Magnus in den Kirchenchor seiner Heimatstadt zurückversetzt, in dem er sowohl vor als auch nach seinem Stimmbruch gesungen hat. Marie hat sehr schön, aber nur ungern gesungen. Magnus dagegen hat das Singen geliebt. Ebenso Mads. Der Chefarzt hat natürlich nicht gesungen. Er meinte, diese Begabung müssten sie von ihrer Mutter geerbt haben.
Nach einigen Strophen kann er in den einfachen Refraindes Kampfliedes mit den wiederkehrenden Versen einstimmen:
Luchamos contra los moros
Rumba la rumba la rumba la
Luchamos contra los moros
Rumba la rumba la rumba la
Mercenarios y fascistas.
Ay Manuela! Ay Manuela!
Ay Carmela! Ay Carmela!
Selbst Juan Montero wird hinter seinem Steuerrad von der guten Stimmung angesteckt und singt den Refrain mit, während er den Wagen durch die Kurven die Hänge hinauflenkt. Magnus hat eine gut ausgebildete Baritonstimme, und Irina und Joe haben noch mehr Lieder auf Lager. Mercer lässt seinen Flachmann mit Whisky kreisen, und nach jedem Lied trinken sie einen Schluck. Montero nimmt gern etwas von dem Wein, aber keinen Whisky.
Es herrscht eine fröhliche Ausflugsstimmung im Auto, und Magnus kann den Blick einfach nicht von Irina abwenden. Vielleicht lässt er sich auch deswegen nicht lange überreden, als sie ein weiteres spanisches Revolutionslied mit einem rhythmischen Klatschen beendet und sagt: »Du hast doch eine schöne Stimme, Magnus. Bitte sing uns einen Tango vor – einen aus Argentinien. Die klingen so wunderschön und wehmütig.«
»Für mich klingen die eher nach Sex«, sagt Mercer.
»Das auch, Joe. Das auch. Komm schon, Magnus.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen auswendig kann.«
»Natürlich kannst du das. So, wie du singst. Sing ihn für mich.«
Magnus lehnt sich zurück, schließt die Augen halb und fängt an zu singen, während er Inés, seine erste argentinische Geliebte, nackt auf dem Bett vor sich liegen sieht.
Sie hat ihm zuerst beigebracht, die argentinischen canciones zu singen, und dann, Tango zu tanzen. Jedes Mal, wenn er danach in einer Tanzbar mit einer anderen Frau auf der Tanzfläche landete, hatte sich unweigerlich Inés’ nackter, sinnlicher Körper als inneres Bild aufgedrängt, weil sie meistens nackt und glücklich miteinander getanzt hatten, bevor und nachdem sie einander geliebt hatten. Ihre Leidenschaft schien nicht von dieser Welt zu sein.
Wieder sieht er Inés vor seinem inneren Auge, aber dann verschwindet ihr Gesicht, und stattdessen blickt er in Irinas Augen, die ihn mit einem verträumten Lächeln ansehen, während sie ihre Zigarette raucht. Sie sind voller Leben und Licht. Während er den Tango singt, der von seinem geliebten Buenos Aires handelt, versucht er, Irina zu verstehen zu geben,
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