Die Wahrheit stirbt zuletzt
schlammig werden, sobald der Winterregen kommt. Die Häuser, die etwas besser in Schuss sind, sind beige oder grau und haben dunkle Fensterläden. Die größeren Bürgerhäuser im Zentrum haben schön geschwungene Balkone mit schwarzen Schmiedeeisengittern. Er vermutet, dass hinter den verrammelten Fenstern das Bürgertum sehnsüchtig auf die Ankunft der Faschisten wartet, um endlich die Rückkehr der natürlichen Ordnung feiern zu können. Mercer hat erzählt, dass Albacete zunächst aufseiten Francos gekämpft habe, aber von der Arbeitermiliz erobert worden sei, sobald man diese mit Waffen ausgestattet habe.
Überall sieht er Männer, die Messer und anderes Besteck verkaufen. Irina erzählt, dass die Herstellung von Schneidewerkzeugen der größte Industriezweig der Stadt sei. Die Stadt wirkt zugeknöpft und unnahbar trotz des Gewimmels von Soldaten, die überall herumlaufen und deren Stimmen die Luft mit vielen verschiedenen europäischen Sprachen erfüllen. Es stinkt aus den offenen Kloaken. Die Schäden, die bei den Luftangriffen auf Albacete entstanden sind, sind deutlich zu sehen. Vor den wenigen Geschäften, die Lebensmittel verkaufen, stehen die Leute Schlange. Joe und Magnus verjagen einige widerliche Köter, die im Müll nach Nahrung suchen, mit Fußtritten. An einer Straßenecke liegt ein großerHundekadaver, an dem die Maden sich bereits gütlich tun.
Sie haben sich zusammen mit Irina nicht weit von der Plaza Altozano absetzen lassen, weil sie davon ausgehen, im Gran Hotel, einem der größeren Hotels der Stadt, Zimmer zu bekommen. Irina nickt, sagt aber nichts. Es wirkt, als ziehe sie sich langsam von den beiden Männern zurück. Genauso schleichend entsteht ein sowohl physischer als auch mentaler Abstand zwischen ihnen, spürt Magnus. Montero kennt ein billigeres Hotel, wo er auch das Auto sicher unterstellen kann. Sie wollen ihn gern noch ein paar Tage behalten, womit er einverstanden ist, solange sie eine Kaution bei ihm hinterlegen, sagt er und schaut vielsagend gen Himmel. Sie verstehen, was er meint, als sie die Mauerstücke und die rußgeschwärzten Häuser sehen, die bei früheren Luftangriffen eingestürzt sind. Die Löcher in den Häuserreihen erinnern Magnus an Zahnlücken in einem verfaulten Gebiss.
Aus den Kneipen und Cafés an der Hauptstraße sind Flüche zu hören, und der Geruch von schwarzem Tabak, billigem Wein und ungewaschenen Körpern strömt ihnen von dort entgegen. Die Militärpolizei der Guardia Asaltos marschiert in Vierergruppen durch die Straßen. An einer Ecke entsteht eine Schlägerei zwischen zwei betrunkenen Männern, die mit Knüppelschlägen auseinandergebracht werden müssen. Sie fluchen auf Flämisch und beschweren sich über die Schläge, werden aber nicht abgeführt.
Mercer schüttelt den Kopf und geht in einem Bogen um die Militärpolizei herum. Er ist groß wie ein Dampfer und trennt die Menschen vor sich, als wären sie kleine Wellen auf einem Meer. Irina und Magnus gehen hinter ihm her, ohne miteinander zu sprechen.
Er besorgt ihnen Zimmer in dem großen Hotel am Rande der zentralen Plaza. Trotz der Sandsäcke vor einem offiziell aussehenden Gebäude, das von drei Soldaten mitden schwarzen Uniformen der Guardia Asaltos bewacht wird, hat ein Café seine Tische und Stühle auf die Plaza gestellt. Eine Gruppe uniformierter Männer sitzt an einem Tisch und trinkt Kaffee. In der Mitte der Plaza stehen einige zerzauste Palmen mit verwelkten Blättern um einen ausgetrockneten Springbrunnen herum.
Das Hotel ist erstaunlich schön und sauber. Für Irina ist dort bereits ein Zimmer reserviert. Davon hatte sie ihnen nichts gesagt. Die meisten Hotelgäste sind hochrangige spanische Offiziere sowie eine kleine Gruppe russischer Berater, bei denen Irina sich später melden soll, wie sie sagt. Magnus sieht sie in ihr Zimmer gehen, das neben seinem liegt, und er spürt eine seltsame Leere, als sie die Tür schließt und auf einmal verschwunden ist.
»Lass uns einen Drink nehmen, Magnus«, sagt Joe und sieht ihn mit einem leicht spöttischen Blick an. Joes Zimmer liegt ein Stück weiter den Gang hinunter. Magnus hat eigentlich keine Lust, und der große Amerikaner geht ihm auf einmal fürchterlich auf die Nerven, aber er überlegt einen Augenblick, ob er trotzdem mitgehen soll. Alkohol könnte das Mittel der Wahl sein, um den Schmerz zu betäuben und die Leere in seinem Inneren auszufüllen.
»Später. Ich will erst einmal ein Bad nehmen. An der Rezeption haben sie
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