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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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schüttelt so sehr den Kopf, dass ihre Locken beben, sieht ihn mit ihren hellen blauen Augen an, lächelt ein wenig traurig, trinkt einen Schluck Wein und fährt fort: »Sie kannte so viele Märchen, meine Großmutter. Eines davon handelt von einem kleinen Troll, der Osip heißt. Magst du Märchen, Magnus? Soll ich es dir erzählen?«
    Er nickt, sie trinkt noch einen Schluck Wein, und ihr Blick wird wieder fern, als sie zu erzählen beginnt.
    »Es war einmal ein kleiner Troll, der hieß Osip und lebte mit seiner Familie in dem Land, das die Trolle ihr Eigen nennen und in dem sie herrschen. Es liegt weit draußen im Wald irgendwo zwischen dem aufgehenden Mond und der untergehenden Sonne. Osip konnte Dinge, die die anderen Trolle nicht konnten, und wurde gehänselt und war unbeliebt, weil er anders war. Osip konnte nämlich Lieder erfinden, die so schön waren, dass die Tiere des Waldes anfingen zu tanzen, sobald er sie auf der kleinen Flöte spielte, die er aus einem Holunderzweig geschnitzt hatte. Die Vögel stimmten sofort in das Lied ein, und selbst der Wolf heulte so herzzerreißend über den gefrorenen Schnee hinweg, dass der Bär und der Hirsch stehen blieben, um Osips Musik zu lauschen.
    Einige der Trolle liebten Osips Musik. Seine Lieder waren ungewöhnlich, manche von ihnen so heiter, dass man Lust bekam, im Schein des Vollmonds zu tanzen.Andere wiederum klangen so traurig, dass man nicht anders konnte, als zu weinen. Aber es war ein wohltuendes Weinen, das die Seele reinigte, sodass es einem hinterher viel besser ging. Die meisten Trolle im Wald fanden jedoch, dass Osips Musik hässlich und gar nicht trollartig sei. Trollmusik habe so zu klingen, wie sie schon seit Trollgedenken klinge. Daher wollten sie Osips Musik im Trollreich verbieten lassen. Aber der Rat der Weisen Trolle, der das Trollreich regierte, war nicht bereit, Osips Musik zu verbieten, auch wenn er sie ebenfalls eigenwillig und wenig trollartig fand. Aber, sagten die Weisen Trolle, es muss Platz für jede Art von Musik geben, auch für die, die Osip spielt.
    Und so lebte Osip viele Winter und Sommer lang glücklich im Wald und ließ seine Holunderflöte fröhlich oder traurig ertönen, so wie ihm zumute war. Die alten, verstockten Trolle gaben jedoch nicht auf. Sie fingen an, darüber zu reden – erst nur vereinzelt und hinter seinem Rücken, später dann immer vernehmlicher –, dass Osips Lieder sich geradezu menschlich anhörten, und das war das schlimmste Schmähwort im Trollreich.
    Vor allem zwei Trolle setzten alles daran, Osips Musik zu unterbinden. Der eine hieß Baba, der andere Buba. Baba und Buba waren klein und gedrungen und hatten so viele kleine Warzen im Gesicht, dass sie mehrfach als schönstes Trollpaar im ganzen Wald ausgezeichnet worden waren. Sie predigten immer das Gleiche: Musik sei etwas für zu Hause und dürfe die öffentliche Ordnung nicht stören. Alles, was keine richtige Trollmusik sei, müsse sofort verboten werden. Und im Übrigen seien sie der Meinung, dass Osips Musik zu menschlich für anständige Trolle sei. Es beunruhigte Baba und Buba nämlich – im Interesse der Gemeinschaft selbstverständlich –, dass immer mehr Trolle Gefallen daran fanden, zu Osips Holunderflötenliedern zu tanzen und sich an ihnen zu erfreuen.
    Baba und Buba waren sich natürlich darüber im Klaren, dass sie sich etwas Besonderes einfallen lassen mussten, um den Rat der Weisen Trolle davon zu überzeugen, dass man Osips Musik zum Schweigen bringen musste, und so fingen sie an, über ihn zu flüstern und zu tuscheln, und als das nichts half, erfanden sie einen Troll, den sie Bibu nannten.
    Bibu war ein außergewöhnlicher Troll, der in die Welt hinauszog und im Reich der Menschen so manches mitbekam. Er war ein geheimer Troll, der im Schatten lebte und alles sah. Er wusste davon zu berichten, dass die Menschen zu Osips Musik tanzten. Das erzählten sie den Weisen Trollen, die darüber sehr erschüttert waren. Sie waren so erschüttert, dass sie nicht einmal mit Bibu persönlich sprechen wollten, sondern die erlogene Geschichte für bare Münze nahmen und Osip untersagten, auf seiner Flöte zu spielen. Keiner der anderen Trolle wagte es, sich einzumischen, und so ergriff niemand Osips Partei, auch die nicht, die seine Musik liebten. Kein Troll wollte sich der Gefahr aussetzen, als menschlich beschimpft zu werden.
    Mit Tränen in den Augen musste Osip zusehen, wie sie seine Flöte in der Mitte durchbrachen. Er schnitzte sich eine

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