Die Wahrheit stirbt zuletzt
neue, aber die zertraten sie mit den Füßen. Als er sich eine dritte Flöte schnitzen wollte, war es endgültig vorbei mit dem Verständnis für seine Menschenideen, und er wurde aus dem Trollreich ausgestoßen. Für Trolle ist das die schlimmste Strafe, denn jeder weiß, dass Trolle außerhalb der Gemeinschaft nicht überleben können. Sie siechen dahin und werden unglücklich. Auch Osip konnte die Einsamkeit nicht ertragen. Er schnitzte die letzte Flöte seines Lebens aus einem großen und prächtigen Holunderzweig, dann hackte er ein Loch in die Eisdecke des Flusses und ließ sich von den Fluten des eiskalten Wassers verschlingen. Das ist die Geschichte von Osip.«
Sie hat wieder feuchte Augen, und Magnus streckt seinen Arm über den Tisch und ergreift ihre Hand und darf sie einige Minuten halten, bevor sie sie wieder zurückzieht und sich von ihm eine weitere Zigarette anzünden lässt. Er sagt nichts, und sie scheint ihr gemeinsames Schweigen zu genießen.
»Babuschka hat immer gesagt, man höre den Klang von Osips klagender Flöte, wenn das Eis bei klirrendem Frost anfängt zu singen, und es seien Osips Tränen, die einem auf den Finger tropfen, wenn man ein Loch in den Holunderzweig ritzt und der weiße Saft austritt.«
»Das ist eine schöne und tragische Geschichte. Wie die deines Landes.«
»Wie die meines Vaterlandes, ja.«
»Aber als Kind hast du sie noch nicht zu hören bekommen, oder?«
»Nein. Babuschka hat sie mir erzählt, als ich schon älter war. Sie hat gesagt, bevor sie sterbe, wolle sie mir noch ein letztes Märchen mit auf den Weg geben.«
Irina macht eine Pause, ehe sie fortfährt: »Die beiden Männer in meinem Zimmer gehören zu einem der Organe. Sie sind in die Welt gesetzt worden, um die Feinde der Revolution aufzuspüren und zu bestrafen. Es gibt viele von ihnen, aber ich gehöre nicht dazu.«
»Was will das NKWD dann von dir?«
»Sie wollen mich zu ihrem Bibu machen, aber das will ich nicht. Dann kehre ich lieber nach Moskau zurück.«
»Das ist keine gute Idee.«
»Mag sein, aber es liegt letzten Endes nicht in meiner Hand.«
»Ich habe dich doch gerade erst kennengelernt.«
Sie lächelt über das ganze Gesicht, und das Lächeln mündet schließlich in ihr helles Lachen. »Magnus. Jetzt aber mal langsam. Wir sind doch zwei erwachsene Menschen.«
»Das Leben ist viel zu kurz, um sich erwachsen zu benehmen.«
»Ich will einfach kein Bibu sein. Ich will es nicht, da können sie schreien und toben und mir drohen, so viel sie wollen.«
»Und wer ist der Osip in der realen Geschichte?«
»Das kann ich dir nicht sagen, aber es ist jemand, den ich sehr schätze. Ich werde gegenüber den Organen kein schlechtes Wort über ihn verlieren. Ich werde ihn nicht beschuldigen. Er ist weder Trotzkist noch Faschist. Er ist weder als Spion für Franco noch für die Amerikaner tätig. Er liebt Kamerad Stalin und die Revolution. Es sind einfach nur Gerüchte, die über ihn verbreitet werden. Es sind nur Baba und Buba, die über ihn flüstern und tuscheln. Aber, wie man neuerdings in Moskau zu sagen pflegt, wo Rauch ist, ist auch Feuer, nicht wahr, Magnus?«
»Jedenfalls gestehen sie reihenweise, sobald sie vor Gericht gestellt werden.«
»Vielen Dank für die Einladung, Magnus. Und dafür, dass du mir zugehört hast. Wie Kamerad Stalin sagt: Man kann kein Omelett zubereiten, ohne Eier zu zerschlagen. Ich werde an meinen Vater schreiben, der den großen Führer persönlich kennt. Noch aus der Zeit vor der Revolution. Wenn Stalin erst informiert ist, wird sich das Missverständnis aufklären, und wir können alle gemeinsam weiter voranschreiten.«
14
F rüh am nächsten Morgen machen Magnus und Joe sich auf den Weg, um das Hauptquartier der Internationalen Brigaden zu suchen. Es ist ein dunkler Morgen mit großen schwarzen Wolken, die von der Steppe her über die Stadt hinwegziehen und das Licht zu ersticken drohen. Magnus nimmt den leichten, kühlen Wind auf ganz neue Weise auf seiner glatten Oberlippe wahr. Als er sich heute Morgen rasiert hat, hat er wieder eine Weile vor dem Spiegel gestanden und sein nacktes, verletzliches Gesicht betrachtet.
Mercer sieht ihn an, seine Augen sind rot geädert: »Das steht dir, Mann. Du siehst zwar ein bisschen jung aus damit, aber immer noch besser als dieser schmale helle Strich, den du bisher vorzuweisen hattest.«
»Halt die Klappe, Joe«, sagt Magnus ohne besonderen Nachdruck. Er spürt immer noch Irinas Zeigefinger auf seiner Haut. Heute
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