Die Wahrheit stirbt zuletzt
wenn es vom Leben auf dem Dorf da unten im Süden erzählte. Oder vielleicht ist es der Traum von einem Leben, das es niemals gegeben hat. Wenn Magnus an seine Heimatstadt denkt, würde er seinen Schmerz am liebsten laut herausbrüllen oder die ganze Stadt dem Erdboden gleichmachen. Und jeden Tag sterben Menschen, weil sie an ein Land oder eine Idee glauben.
In Wirklichkeit ist es doch viel vernünftiger und ehrenhafter, wie die kriminelle Familie in New York über ihr Territorium herrscht. Ihr Augenmerk gilt allein der engsten Familie sowie den Alliierten der Familie, denkt er, ohne seine Argumentation erfolgreich zu Ende führen zu können. Daher schiebt er sie lieber wieder beiseite, denn auch in New York geht man problemlos vom Gespräch zur Gewalt über, sobald jemand die Interessen der Familie infrage zu stellen wagt. Darin besteht also kein Unterschied. Wäre er in der Lage, für sein Land zu töten? Hierin Spanien würde er mit einem entschiedenen Nein antworten, wenn sie ihm diese Frage stellten. Er schüttelt den Kopf, und Mercer sieht ihn fragend an, bekommt aber keine Erklärung.
Mercer ist auf der Suche nach Mitgliedern der 15. Brigade, in der viele amerikanische Staatsbürger ihren Dienst tun, während Magnus sich zur skandinavischen Abteilung durchfragt. Sie verabreden, dass sie sich später im Café gegenüber von ihrem Hotel treffen wollen.
Magnus sagt es nicht, hofft aber, Irina später im Hotel anzutreffen und sie mitnehmen zu können. Er spürt ein heftiges Verlangen nach ihr, andererseits geht es ihm bei fast allen halbwegs attraktiven Frauen so. Aber diesmal ist es anders. Irina trägt Geheimnisse mit sich herum, die ebenso mysteriös sind wie ihr großes, rätselhaftes Land. Er kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie aus seinem Leben wieder verschwinden könnte. Vor seinem inneren Auge sieht er ihr schönes, lebendiges Gesicht, das in seiner Lebhaftigkeit eigentlich unrussisch ist, und fühlt sich wie ein unbeholfener Schuljunge, der angestrengt über einen Weg nachdenkt, wie er mit der Angebeteten aus der ersten Reihe im Klassenzimmer Kontakt aufnehmen könnte.
In den langen Gängen herrscht ein reges Kommen und Gehen, und hinter den halb geöffneten Türen hört er das Klackern von Schreibmaschinen. Hier arbeiten mehr Frauen, als er erwartet hat. In einem großen Raum mit niedriger Decke sind acht Frauen damit beschäftigt, Briefe und Päckchen zu sortieren. Er weiß, dass Albacete der Ort ist, an dem die Freiwilligen gemustert, ärztlich behandelt und in den Lazaretts und Krankenhäusern zusammengeflickt werden, und er erinnert sich daran, dass Albacete auch die Adresse war, die Mads in seinen Briefen angegeben hatte. Er vermutet, dass die Briefe hier zunächst sortiert und von der Zensur gelesen werden, bevor sie dem Roten Kreuz ausgehändigt werden.
Die Briefe liegen in großen Haufen auf einem langen Tisch und werden dort fein säuberlich zu Stapeln sortiert. An den Wänden stehen große Aktenordner, in denen die Frauen nachschlagen, ehe sie einen Brief auf einen der Stapel legen. Auf anderen Tischen liegen Päckchen in unterschiedlichen Größen mit Briefmarken aus vielen verschiedenen Ländern. Die Frauen beachten ihn nicht, aber als er lächelt, kommt eine dünne Frau in einem hellgrauen Uniformrock und einer dunklen Bluse zu ihm herüber. Auf den ersten Blick hält er sie eher für vierzig als für dreißig, aber er bemerkt schnell, dass er ihr damit unrecht tut. Es ist die Erschöpfung in ihrem Gesicht, die sie älter erscheinen lässt.
»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragt sie freundlich, aber zögerlich auf Spanisch. Ihre Augen sehen müde aus.
»Die skandinavische Abteilung. Wo finde ich die?«
»Sind Sie Däne oder vielleicht Schwede?«, fragt sie auf Dänisch.
»Däne. Mein Name ist Magnus Meyer. Ich bin Journalist. Guten Tag.« Er reicht ihr die Hand, und sie drückt sie kurz und kraftlos.
»Tove Hansen. Eigentlich Büroangestellte. Jetzt in der Post- und Zensurabteilung beschäftigt. Du hast nicht zufällig etwas zu rauchen dabei?«
Er reicht ihr eine Zigarette und zündet sie mit seinem Feuerzeug an, das Tove Hansen mit einer Mischung aus Begehren und Neid ansieht.
»Du bist wohl gerade erst angekommen?«, fragt sie.
»Es ist noch nicht lange her. Und Sie?«
»Hier unten sind alle per Du. Ich bin schon eine ganze Weile hier.«
Ihr Blick wird fern. Sie raucht langsam und mit halb geschlossenen Augen, ehe sie fortfährt: »Danke für die Zigarette. Du musst
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