Die Wahrheit stirbt zuletzt
und vernichtet, ohne darüber nachzudenken. Ich habe hier unten so viele grausame Dinge erlebt, aber jener Tag ist mir deutlicher im Gedächtnis geblieben als so vieles andere. Du hast mit dem Schürhaken nach mir geschlagen, erinnerst du dich? Ich konnte dem Schlag ausweichen, aber du hast es erneut versucht. Und plötzlich waren deine Augen voller Schmerz. Du hast dich umgedreht und den Schürhaken gegen Vaters Bein geschleudert. Er hat davon noch immer eine Narbe am Schienbein. Er brüllte vor Schmerz. Du bist wortlos an mir vorbeigegangen.
Das nächste Mal, dass ich dich sah, war bei unserem Wiedersehen vor einer Stunde. Auf einmal stehst du hier und willst, dass ich deinem Willen folge. Du hast Marie und mich verlassen. Du bist ohne ein Wort abgehauen. Ich habe beinahe jeden Tag an dich gedacht. Zwei widerstreitende Gefühle haben in meinem Inneren miteinander gerungen, Magnus. Meine große Liebe zu dir und mein tief empfundener Hass, weil du ein Feigling bist, der abgehauen ist, als es wirklich um etwas ging. Du hast in erster Linie an dich selbst gedacht.
Als Mutter starb, hatte ich Marie und dich. Ihr wart mein Halt im Leben. Nachdem du weg warst, hatte ich natürlich immer noch Marie, aber ohne dich habe ich mich wie ein Mann mit nur einem Bein gefühlt.«
Magnus spürt, wie sich ihm der Hals zuschnürt. Er sieht die Szene deutlich vor sich. Er erkennt seine eigene Stimme nicht wieder, als er sagt: »Ich habe mich nicht getraut zu bleiben …«
»Du hast mir nicht einmal Lebewohl gesagt. Seit Mutters Tod warst du der Mittelpunkt meines Lebens.«
»Ich habe mich nicht getraut zu bleiben, Mads. Ich konnte mich nicht auf mich selbst verlassen. Ich hätte ihn umgebracht, wenn ich in Dänemark geblieben wäre.«
Mads dreht sich um und sagt: »Ich verstehe das, Magnus, aber es nützt dir trotzdem nichts.«
»Begreifst du denn nicht, dass ich weggehen musste, um überleben zu können? Wäre ich zu Hause geblieben, wäre ich entweder zum Vatermörder oder zum Selbstmörder geworden. Ich bin weggegangen, um dich davor zu bewahren, einen großen Bruder zu haben, der entweder im Gefängnis sitzt oder unter der Erde liegt.«
»Das redest du dir im Nachhinein schön. Du bist einfach abgehauen, Magnus. Du hättest verdammt noch mal mit mir oder Marie reden können. Du hättest dich wenigstens verabschieden können.«
»Und was ist mit dir? Du bist ein durch und durch guter Mensch, nicht wahr? Der letzte Idealist auf der großen weiten Welt. Dir ist es wichtiger, dich für törichte Ideen zu opfern als an deine große Schwester zu denken, für die jeder Tag eine Qual ist, weil sie sich so sehr um ihren kleinen Bruder sorgt.«
»Ich habe es dir schon einmal gesagt. Benutz Marie nicht, um mich unter Druck zu setzen.«
»Deine Wut auf mich kehrt sich letztlich gegen sie.« Magnus macht einen Schritt auf seinen kleinen Bruder zu, dessen Augen vor Wut ganz schmal und hart geworden sind. »Weißt du was, Mads? Du fliehst selbst vor der Verantwortung. Vor der Verantwortung deinen Nächsten gegenüber …«
»Das ist überhaupt nicht vergleichbar.«
»Ist es nicht? Warum bist du hier? Um den Faschismus zu bekämpfen? Um die Republik zu unterstützen? Nein, du bist hier, weil das deine Art zu flüchten ist. Es ist deine Art, mich zu bestrafen, auch wenn du Marie damit viel härter triffst.«
»Du bewegst dich auf sehr dünnem Eis, Magnus.«
»Aber ich habe recht, nicht wahr?«
»Du solltest dich selbst reden hören, du egoistischesSchwein. Zu keinem einzigen Zeitpunkt sagst du, dass ich das alles hier aufgeben soll, weil es dich glücklich machen würde. Du benutzt Marie, um mich unter Druck zu setzen. Du denkst nur an dich. Du willst dir einen Ablass erkaufen, weil du uns damals im Stich gelassen hast. Du bist ein Kujon, Magnus. Du versteckst dich hinter den Rockschürzen der Frauen …«
»Halt dein verfluchtes Maul«, brüllt Magnus und schlägt ihm mit der geballten Faust gegen die Schulter. Der Schlag ist nicht besonders hart, trifft Mads aber dennoch unerwartet, sodass er einen Schritt nach hinten taumelt. Er findet aber schnell das Gleichgewicht wieder und macht einen Sprung auf Magnus zu, sodass beide zu Boden fallen.
Magnus spürt seine Wut im ganzen Körper. Es ist die gleiche Wut, die er damals in New York empfand, als er beinahe einen von Don Giacomos Handlangern totgeschlagen hätte, weil der ihn beleidigt und einen Schlappschwanz genannt hatte. Er kennt seinen Zorn nur allzu gut. Er ist flammend und
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