Die Wahrheit stirbt zuletzt
zurück. Sein Atem geht schnell und klingt beinahe pfeifend. Er sieht aus den Augenwinkeln, dass die beiden Kameraden aufgestanden sind und auf ihn zukommen. Mads, bleich im Gesicht, hat sich ebenfalls erhoben und versucht, die beiden zu beschwichtigen.
Magnus nimmt seine Tasche und tritt einen Schritt zurück. Bertil hebt den Kopf und versucht aufzustehen. Als Mads zu ihm hingeht und ihn am Arm fasst, um ihm aufzuhelfen, empfindet Magnus einen Schmerz, der so groß und lähmend ist, dass er sich am liebsten einfach auf den Boden setzen würde.
Bertil steht schon wieder, wenn auch ein wenig wankend. Blut rinnt von seiner Schädeldecke. Er faucht: »Verschwinde! Schmarotzer wie dich können wir hier nicht gebrauchen. Verschwinde oder ich bringe dich um! Du bist nur noch am Leben, weil du Mads’ Bruder bist.«
Magnus spürt, dass der ganze Saal gegen ihn ist. Gewalt liegt in der Luft. Einer nach dem anderen haben sich die Männer erhoben und bringen sich jetzt gegen ihn in Stellung. Bertil ist ein Mann, der unverkennbar geschätzt,aber auch gefürchtet wird, und selbstverständlich sind alle auf seiner Seite. Magnus’ Puls rast.
»Mads?« Seine Stimme klingt flehender, als ihm lieb ist.
»Es ist sicher das Beste, wenn du jetzt gehst, Magnus.« Mads spricht leise und hat das Gesicht von ihm abgewandt.
»Bist du etwa auf der Seite dieses Scheißschweden?«
»Ich glaube, es ist am besten, wenn du jetzt gehst.«
»Du bist mein Bruder, verdammt noch mal.«
»Geh jetzt, Magnus. Kannst du nicht einfach abhauen? Du hättest gar nicht erst kommen sollen.«
»Fuck you, Mads! Du bist mein Bruder.« Er spürt die verräterischen Tränen in seinen Augen, aber Mads schaut weg, um ihn gleich darauf mit flehendem Blick anzusehen. Magnus macht auf dem Absatz kehrt und geht schnellen Schrittes in Richtung Kirchentür. Er hört, wie hinter ihm spöttisches Gelächter einsetzt und Bertil ihm mit vor Schmerz bebender Stimme, aber laut und deutlich hinterherruft: »Flieh nur, du Kujon! Hau doch ab. Das kannst du ja eh am besten. Abhauen, wenn es brenzlig wird. Lauf nach Hause ins sichere Dänemark und überlass Spanien den richtigen Männern. Du bist doch bloß ein beschissener maricón.«
19
E in paar Tage später sitzt Magnus am frühen Nachmittag in der Bar des Gran Hotel, traurig und zugleich auch ziemlich wütend. Joe Mercer ist immer noch nicht aus Madrid zurückgekehrt, und Irina ist nach Valencia gereist, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Andererseits: Warum hätte sie das tun sollen? Sie ist ihm in keiner Weise verpflichtet. Sie haben sich gut unterhalten, und sie begegnet ihm mit großer Sympathie, ja vielleicht sogar Wärme. Sie können auch gut zusammen lachen, aber daraus zu schließen, dass sie in ihn verliebt ist, wäre wohl ein wenig zu weit gegriffen. Dennoch: Eine Nachricht von ihr hätte ihn aufgeheitert.
Es ärgert ihn auch, dass seine Versuche, Marie einen Brief über seine Begegnung mit Mads zu schreiben, ständig im Sande verlaufen. Er weiß nicht, wie er den Brief formulieren soll, bringt es nicht fertig, von seiner Niederlage zu berichten. Er schreibt »Liebe Marie«, starrt dann in die Luft, knüllt schließlich das Briefpapier zusammen und wirft es in den Papierkorb. Er hat Marie enttäuscht, er hat Mads enttäuscht, aber vor allem hat Mads ihn im Stich gelassen. Er ist voller Selbstmitleid und zugleich auch voller Selbstverachtung angesichts seiner eigenen Unzulänglichkeit.
Er hat einen leichten Kater und trinkt langsam eine weitere Tasse Kaffee. Der dunkle Raum, der mit einem langen, breiten Zinktresen, hinter dem ein melancholischer Barkeeper steht, und schweren Mahagonimöbeln eingerichtet ist, ist beinahe leer. Auch der Blick des Barkeepers ist leer. Er trägt ein weißes Hemd, eine schwarzeWeste und eine schwarze Hose, deren Hinterteil so blank ist wie das Glas, das er gedankenverloren trocken reibt.
Beim Kaffee hat Magnus die Zeitungen gelesen und versucht, ihre verklausulierten Umschreibungen in den zensierten Berichten über den Kriegsverlauf zu entschlüsseln. Jetzt will er ein Bier trinken und dann noch einmal versuchen, an Marie zu schreiben und nicht daran zu denken, was Mads wohl gerade macht. Dabei ist er fast krank vor Sorge um seinen kleinen Bruder, wo auch immer er sich gerade befinden mag.
Er hat Juan Montero mit dem Wagen nach Valencia zurückgeschickt. Es gibt keinen Grund, ihn noch länger zu bezahlen. Den Großteil seines Bargeldes hat er für den Chauffeur
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