Die Wahrheit über Alice
Ansammlungen von Lauten, die machtlos sind gegen
die Wucht von realem Schmerz, realem Leid.
«Nichts», sage ich. «Du kannst nichts machen. Gar nichts.»
«Genau. Und wenn man sich gegenseitig die Wahrheit sagt, wie traurig man ist, dann fühlt man sich noch schlechter, weil man
sich dann auch noch mit dem Schmerz von dem anderen armen Teufel rumschlagen muss, zusätzlich zum eigenen.»
«Stimmt.» Ich zucke die Achseln. «Wahrscheinlich ist es besser, jeder kümmert sich allein um sein eigenes Unglück, auf seine
Art. Und wenn man Glück hat, wird es dann irgendwann erträglicher. Beschäftigt einen nicht jeden Tag aufs Neue.»
Robbie nickt zustimmend. Und dann schweigen wir einen langen Augenblick. Ich warte und überlasse es Robbie, ob er das Gespräch
fortsetzen oder das Thema wechseln will. Seine nächsten Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, in einem atemlosen Strom. «Ich
war drauf und dran, von zu Hause auszuziehen, als |49| sie ernsthaft krank wurde, aber ich bin geblieben, weil ich helfen und bei ihr sein wollte. Ich hatte vor, möglichst viel
Zeit mit ihr zu verbringen, bevor sie starb … weil wir da schon wussten, dass sie mit Sicherheit sterben würde, die Frage war nur noch, wann. Aber das ist zwei Jahre
her. Und ich bin immer noch nicht ausgezogen. Ich bin zwanzig Jahre alt und wohne noch zu Hause, weil mein alter Herr mir
leidtut. Aber das Bescheuerte ist, ich weiß nicht mal, ob er das überhaupt will. Er hätte es wahrscheinlich gern, dass ich
endlich ausziehe, damit er allein sein kann, damit er sich in Ruhe in seinem Elend suhlen kann. Er denkt wahrscheinlich,
ich
will nicht allein sein. Das Ganze ist einfach … na … total verkorkst.»
«Dann ist dein Dad also noch ziemlich traurig?»
«Überwiegend geht’s ihm gut. Zumindest tut er so. Überwiegend ist er stark und will unbedingt nach vorn schauen, dafür sorgen,
dass zu Hause alles bestens ist, sauber, der Kühlschrank voll, so was eben. Dauernd haben wir Besuch von irgendwelchen Freunden,
Pizza-und-Bier-Abende, als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen, als könnte das Leben nicht besser sein ohne eine Frau im
Haus. Aber neulich Abend, vor ungefähr einer Woche, bin ich zu seinem Zimmer gegangen, um ihm etwas zu sagen. Und da bin ich
draußen vor seiner Tür stehen geblieben, keine Ahnung warum, vielleicht … jedenfalls … ich bin stehen geblieben und hab gehört, wie er geweint hat. So richtig geweint, meine ich, herzzerreißend, laut und schluchzend.
Es war echt furchtbar. Klar, ich weiß, er hat Mum wirklich geliebt, ich weiß, sie fehlt ihm, aber er hat so … so hilflos geklungen. Wie ein Kind. Als hätte er sich absolut nicht mehr im Griff. Als wäre diese ganze Heiterkeitsnummer
bloß Theater. Reine Fassade für mich. Und ich wusste nicht, was ich machen soll, also bin ich einfach einen Moment lang da
stehen geblieben und habe gehofft, dass er aufhört, dass er verdammt |50| nochmal aufhört. Es war gruselig. Das Schlimmste war, dass ich nicht die Spur Mitleid hatte. Ich hab ihn dafür gehasst, dass
er es mir nicht erspart hat, dass er nicht weiterhin so getan hat, als käme er gut klar.»
«Ich weiß, was du meinst. Wenn man seine Eltern so erlebt, wird man erwachsen, dann begreift man, dass sie in Wahrheit gar
keine Kontrolle über diese große beängstigende Welt haben. Und wenn die Eltern so verletzlich sind, wenn sie gar nichts kontrollieren
können, worauf kann man sich dann noch verlassen?» Die Worte fließen mir über die Lippen, ehe ich realisiere, was ich da preisgebe.
«Genau.» Robbie schaut mich plötzlich erschrocken an. «Ach, du Scheiße. Deine Mum ist doch nicht etwa auch gestorben oder
so?»
«O nein.» Ich schüttele den Kopf und lache, als wäre allein der Gedanke, ich könnte irgendwelche Erfahrungen mit dem Tod haben,
absurd. «Sie ist quicklebendig. Ich denke bloß über diesen ganzen Kram nach. Und ich hab ein paar Bücher von meinem Dad über
Themen wie Verlust und Trauer gelesen. Ich bin wahrscheinlich morbide. Verrückt.»
«Na, jedenfalls hast du das Gefühl perfekt ausgedrückt. Die meisten flippen aus, wenn ich sage, dass meine Mum tot ist. Sie
reagieren bestürzt oder verlegen und wechseln das Thema. Und meine Therapeutin ist auch Zeitverschwendung. Sie fragt ständig,
was ich fühle und wie es mir damit geht. Und dann sagt sie, meine Gefühle seien völlig berechtigt, aber dabei will sie eigentlich
sagen, ich solle
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