Die Wahrheit über Alice
entschuldigend an, während sie ihm eine ordentliche Portion auf einen Teller schaufelt.
«Ja, klar. Kein Problem», sage ich und meine es auch so. Ich habe viel zu viel gekocht. Genug für mindestens sechs.
Alice fragt Robbie, ob er gern was Alkoholisches trinken würde, doch er schüttelt den Kopf, sagt irgendwas von Fußballtraining
und gießt sich stattdessen ein Glas Wasser ein. Er sieht, wie Alice sich noch einen Drink einschenkt.
«Whiskey?», fragt er. «Ganz schön heftig, oder?»
«Ja.» Sie zwinkert anzüglich. «Echt heftig. Genau wie ich.»
Wir drei gehen nach draußen auf den Balkon, und Robbie macht sich begeistert über sein Curry her. Ich bin zunächst ein wenig
verlegen, aber so freundlich und nett, wie er meine Kochkünste lobt, und so amüsant, wie er erzählen kann, dauert es nicht
lange, bis ich mich für ihn erwärme. Robbie ist zwanzig, und er kellnert in irgendeinem noblen Restaurant. Im Nu lache ich
unbekümmert über die Geschichten, die er von all den unausstehlichen Gästen erzählt, mit denen er sich rumschlagen muss.
Als es zu kalt wird, gehen wir wieder rein und setzen uns im Wohnzimmer auf den Fußboden. Der viele Whiskey, den Alice getrunken
hat, zeigt Wirkung. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Augen blutunterlaufen. Sie lallt merklich, spricht viel zu laut und
fällt Robbie ständig ins Wort, um seine Geschichten zu Ende zu erzählen. Das scheint ihm nichts auszumachen, denn er lächelt
nachsichtig, wenn sie ihn unterbricht, und lässt sie reden.
Er ist in sie verliebt, folgere ich. Die Art, wie er sie ansieht, und die Tatsache, dass er an einem Samstagabend so kurzfristig
kommen konnte. Er ist bis über beide Ohren in sie verliebt.
Alice steht auf und geht zum Sideboard, um Viviens C D-Sammlung durchzusehen.
|44| «Ach, du Schande!», sagt sie. «Ich hätte meinen iPod mitbringen sollen. Das ist alles uralt. Achtziger Jahre!» Aber schließlich
wählt sie ein Prince-Album aus und legt die CD ein.
«Meine Mum steht total auf diesen Song», sagt sie. «Sie tanzt ständig dazu. Du solltest sie mal tanzen sehen, Katherine. Sie
ist unglaublich. Sie sieht aus wie ein Filmstar. Und sie ist total schön, wenn sie tanzt.» Und dann dreht sie die Lautstärke
auf und fängt an, verführerisch die Hüften zu schwingen.
Alice lächelt mit geschlossenen Augen, und ich wundere mich unwillkürlich über dieses plötzliche Eingeständnis der Bewunderung
und Zuneigung für ihre Mutter. Die wenigen Male, die sich Alice bislang in meiner Gegenwart über ihre Eltern geäußert hat,
klang es abschätzig, verächtlich, fast so, als würde sie sie hassen.
Robbie und ich bleiben sitzen und schauen Alice beim Tanzen zu. Sie tanzt gut, geschmeidig und sexy, und Robbie blickt lächelnd
zu ihr hoch. Er wirkt völlig vernarrt in sie, und ich denke bei mir, wie schön es wäre, so geliebt zu werden, wie aufregend,
wenn jemand ein romantisches Interesse an mir hätte. Und zum ersten Mal seit Rachels Tod, seit Will, erlaube ich mir die Phantasie,
dass ich vielleicht eines Tages so jemanden wie Robbie habe, den ich lieben kann. Jemand, der schön ist und sanft und klug.
Jemand, der mich auch liebt – ungeachtet dessen, wer ich bin und was ich getan habe.
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A ls der erste Song zu Ende ist, fängt ein neuer an, einer, der fetziger ist, und Robbie springt auf, streckt die Hand nach
mir aus und zieht mich hoch. Und dann tanzen wir miteinander, wir drei, locker und ungeniert. Wir tanzen eng, unsere Körper
berühren sich, Hüften und Schenkel stoßen aneinander, die Arme verschlungen. Robbie legt die Arme um Alice. Er küsst sie,
und ich beobachte die beiden, wie sie sich aneinanderschmiegen. Sie sind beide so schön, sie passen perfekt zusammen. Alice
bemerkt meine Blicke und lächelt, dann flüstert sie Robbie etwas ins Ohr. Robbie lässt Alice los und schlingt die Arme um
mich, drückt mich ganz fest, dann legt er die Hände an meine Wangen, beugt den Kopf und drückt seine Lippen auf meine. Es
ist ein keuscher Kuss, fast brüderlich, aber trotzdem prickelnd. Alice lächelt, stupst mich an und kichert. Und dann umarmen
wir drei uns wieder und lachen, und ich bin überglücklich. Ich fühle mich angenommen. Ich fühle mich attraktiv. Ich fühle
mich wieder jung.
Und als sich die kleine Stimme in meinem Kopf meldet – die Stimme, die mir sagt, dass ich das Glück nicht verdient habe, dass
ich mir nicht nehmen sollte, was Rachel nicht mehr haben
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