Die Wahrheit über Alice
Abwesenheit war wie eine Art bösartiges Vakuum, das ihm alle Freude und
Schönheit aussaugte. Seitdem war ich nicht mehr da.
Damals, davor, fuhren wir oft in den Schulferien von Melbourne aus hin und blieben eine Woche, manchmal auch zwei. Rachel
hatte dort alle Ruhe, die sie zum Üben brauchte. Der Flügel bildete den Mittelpunkt des Wohnbereichs, und wenn Rachel spielte,
saßen Mum und Dad und ich auf der Veranda und lauschten. Abgesehen von Rachels Musik waren es ausgesprochen stille Urlaube.
Wir hatten dort weder Fernseher noch Radio, und auch die Umgebung bot keinerlei Unterhaltungsmöglichkeiten, |58| und so gingen wir tagsüber spazieren oder schwimmen und spielten abends Scrabble oder Schach.
Jetzt finde ich es unvorstellbar, dass ich mich so oft gelangweilt habe, wenn wir dort waren. Mich quält die Erinnerung daran,
dass ich mich manchmal nur wegwünschte: Ich vermisste meine Freunde, mein Sozialleben, den Jungen, in den ich gerade verknallt
war, und ich konnte es meistens kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Heute wünschte ich, ich wäre aufmerksamer gewesen,
gegenwärtiger. Ich wünschte, ich hätte begriffen, wie zerbrechlich das alles war. Wenn mir bewusst gewesen wäre, wie leicht
alles zerstört werden kann, hätte ich es nicht als selbstverständlich hingenommen. Im Nachhinein sehe ich glasklar, dass wir
wirklich vom Glück gesegnet waren. Im Nachhinein schäme ich mich dafür, dermaßen ahnungslos gewesen zu sein.
Daher erwähne ich das Haus in den Bergen mit keinem Wort, obwohl es so praktisch für uns wäre. Stattdessen schlage ich vor,
in den Süden zu fahren.
«Aber im Süden ist das Wasser so kalt. Ich will nach Norden, da ist es wärmer», wendet Alice ein.
«Den Unterschied merkst du doch gar nicht. Und im Süden ist es nicht so überlaufen. Und billiger.» Robbie lächelt mich an,
reißt die Augen gespielt auf, er zeigt seine liebevolle Belustigung über Alice. «Eine ganz ausgezeichnete Idee, Katherine.»
«Hey.» Alice starrt erst mich an und dann Robbie. «Ich hab den Blick genau gesehen, den ihr euch zugeworfen habt. Eine kleine
Verschwörung, was? Etwa gegen mich?» Sie lächelt, aber ihre Stimme klingt gereizt, und die Augen funkeln kalt. «Ver gesst bloß nicht, mit wem hier alles steht und fällt. Ohne mich wärt ihr doch aufgeschmissen. Ihr würdet euch nicht mal kennen,
wenn ich nicht wäre.»
«Halt mal die Klappe, Alice.» Robbie verdreht die Augen |59| und hält seine leere Tasse hoch. «Ich brauch noch Kaffee. Sei eine gute Gastgeberin und hol uns Nachschub.»
Alice schiebt ihr Gesicht dicht vor Robbies, und einen erschrockenen Moment lang weiß ich nicht, was sie tun wird. Sie sieht
wütend aus, und ich frage mich, ob sie ihn anschreien oder ihm sagen wird, er soll verschwinden, und einen Moment lang halte
ich es sogar für möglich, dass sie ihn beißt. Stattdessen presst sie ihre Lippen fest auf seine und öffnet den Mund. Sie zwingt
ihre Zunge zwischen seine Lippen. Genauso unvermittelt weicht sie zurück, sammelt unsere leeren Tassen ein und steht auf.
«Noch einen Kaffee? Noch ein bisschen Tee, Katherine?» Sie blickt auf uns hinab und lächelt vergnügt.
«Klingt gut. Danke.»
Robbie sieht ihr nach, als sie den Raum verlässt.
«Hat sie das ernst gemeint?», frage ich.
Er sieht mich verdutzt an, als hätte er kurz vergessen, dass ich da bin. «Ernst?» Und dann nickt er. «O ja. Du meinst, dass
sich alles um sie dreht? Sehr ernst. Sie ist eine Narzisstin, wie sie im Buche steht. Sie interessiert sich wirklich nur für
sich selbst.»
Ich denke, dass Robbie übertreibt. Er liebt sie schließlich, daher kann er das nicht völlig ernst meinen. Alice ist ein wenig
egoistisch, ein wenig von sich eingenommen, das ist mir natürlich auch schon aufgefallen. Aber was soll’s? Sie kann auch unheimlich
großzügig und nett sein. Außerdem kann sie erstaunlich gut zuhören und anderen das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein.
«Aber du liebst sie trotzdem?»
«Sie ist wie eine Droge. Ich krieg einfach nicht genug von ihr.» Plötzlich sieht er traurig aus. «Ich weiß, sie ist schlecht
für mich, ich weiß, ich werde nie glücklich mit ihr sein, aber ich kann nicht anders. Egal, was sie mir antut, ich komme immer |60| wieder angekrochen.» Er zuckt die Achseln und wendet den Blick ab. «Ich bin süchtig. Alice-süchtig.»
«Aber was –?» Ich will ihn gerade fragen, was genau sie ihm denn antut, warum er glaubt,
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