Die Wahrheit über Alice
ernsthaft versuchen, etwas völlig anderes zu fühlen. Ich könnte genauso gut mit einer Rolle Klopapier sprechen.»
Ich will gerade etwas erwidern, als Alice sich nebenan meldet.
«Guten Morgen!», ruft sie, mit einer tiefen Reibeisenstimme |51| von letzter Nacht. «Leute? Wo seid ihr? Ich fühle mich allmählich sehr einsam hier.»
Robbie und ich lächeln einander an, zucken mit den Schultern und beenden unser Gespräch. Wir nehmen die Teekanne und die Milch,
den Zucker und die Tassen und gehen zu Alice ins Wohnzimmer.
|52| 7
I ch hole Sarah heute früher als sonst aus dem Kindergarten ab. Ich beobachte sie einen Moment lang durchs Fenster, ehe sie
mich entdeckt, und sehe erfreut, wie fröhlich sie wirkt. Sie spielt mit einem Klumpen knallgrüner Knete, allein, völlig versunken
darin, ihn platt zu klopfen. Sie ist eine kleine Einzelgängerin; sie fühlt sich unwohl mit anderen, genau wie Rachel früher,
und so froh ich über ihre Zurückhaltung bin, mache ich mir gleichzeitig Sorgen, sie könnte es später schwer haben. Schließlich
muss sie mit anderen klarkommen, ob sie will oder nicht.
Es ist komisch, weil ich Rachels Scheu nie als Nachteil gesehen habe. Ich fand diesen Zug an ihr sogar liebenswert. Doch bei
meiner Tochter soll alles perfekt sein. Ich möchte, dass sie von allen geliebt wird. Ich möchte, dass bei ihr alles möglichst
leicht und glücklich und glatt verläuft.
Ich bekomme oft zu hören, ich sei eine Glucke, ich müsse Sarah loslassen, ihr Freiraum geben, damit sie ihren eigenen Weg
in der Welt findet, aber ich glaube nicht, dass Eltern ihre Kinder überhaupt zu sehr behüten können. Die Leute, die so was
sagen, würde ich am liebsten am Arm packen und schreien: Es lauern überall Gefahren, ihr Idioten! Glaubt ihr, ihr seid sicher,
glaubt ihr, andere Menschen sind vertrauenswürdig? Nett? Macht die Augen auf und seht euch um! Aber sie würden mich bloß für
verrückt halten. Sie sind naiv, leichtgläubig, ahnungslos, dass die Welt voll mit Leuten ist, die einem übelwollen, und ich
bin immer wieder erstaunt, wie man so blind sein kann.
|53| Mutter sein ist schwierig, widersprüchlich, unmöglich. Ich möchte, dass Sarah glücklich ist, Freundschaften schließt, lacht
und fröhlich ist. Sie soll nicht durch Furcht und Angst gelähmt werden. Aber sie soll auch auf der Hut sein, mit offenen Augen
durch diese gefährliche Welt gehen.
Ich öffne die Tür zum Spielzimmer, trete ein und stelle mich hinter sie, warte ab, bis sie meine Gegenwart spürt und sich
umdreht. Ich liebe den Moment, in dem sie mich erkennt, diesen Ausdruck reiner Freude, der über ihr Gesicht gleitet. Sie vergisst
dann schlagartig, womit sie gerade noch beschäftigt war, und wirft sich in meine Arme. Sie geht nur an zwei Nachmittagen die
Woche in den Kindergarten, mittwochs und freitags. Das sind immer quälend lange, öde Nachmittage für mich, und ich bin jedes
Mal erleichtert, wenn ich sie am späten Freitagnachmittag abhole, froh, dass wieder eine Woche vorbei ist, dass wir vier ganze
Tage zusammen sein können, ehe ich sie wieder abgeben muss.
Heute hole ich sie früher ab, weil unser jährlicher Ausflug ansteht. Ich fahre mit ihr nach Jindabyne, in den Schnee, und
ich freue mich wie ein Kind auf Sarahs Begeisterung, die sie sicher zeigen wird, wenn sie zum ersten Mal die weiße Pracht
sieht. Wir können einen Schneemann bauen, Schneeballschlachten machen, vielleicht rodeln gehen. Wir können heißen Kakao am
Kamin trinken und die Kälte genießen, uns freuen, dass wir ein wenig Zeit für uns allein haben, ohne meine Eltern.
«Mummy!», ruft sie, als sie mich sieht. Sie springt so schnell auf, dass ihr Hocker umkippt, läuft zu mir und schlingt die
Arme um meinen Hals. «Fahren wir?»
«Von mir aus kann’s losgehen.»
«Hast du auch meine Sachen eingepackt?»
«Ja klar.»
«Meinen Teddy?»
|54| «Natürlich.»
«Aber was ist mit Nana und Pop?» Sie weiß, wie abhängig meine Eltern von ihr sind, und es macht mich traurig, dass sie sich
schon in ihrem Alter um sie sorgt.
«Die machen sich auch ein schönes Wochenende. Sie kriegen Besuch von Freunden zum Essen und so.»
Ihr Gesicht hellt sich auf. «Freuen sie sich darauf?»
«Sehr. Sie freuen sich fast so sehr wie wir.»
Ich bücke mich und hebe sie hoch, hole ihre Taschen, verabschiede mich von den Erzieherinnen und gehe zum Auto. Die Fahrt
aus Sydney heraus geht schnell und reibungslos, bis zur
Weitere Kostenlose Bücher