Die Wahrheit über Alice
zuzuhören. Alice hat Geheimnisse. Genau
wie ich. Wieso auch nicht? Ich würde Robbie am liebsten sagen, er soll sie in Ruhe und die Sache auf sich beruhen lassen,
aber ich habe nichts mit dem Streit zu tun. Ich drehe mich um und will schon zurück in die Küche, als Alice meinen Namen ruft.
«Lauf nicht weg», sagt sie.
Ihr Ton ist kalt und anmaßend, und das ärgert mich. Als ich reagiere, klinge ich genauso kalt. «Ich laufe nicht weg», sage
ich. «Ich gehe Frühstück machen. Ich habe Hunger.»
«Ich will bloß deine Meinung hören», fährt sie fort, als hätte ich nichts gesagt. «Findest du nicht, dass ich das Recht habe,
selbst zu entscheiden, was ich erzählen oder nicht erzählen will? Oder ist es falsch von mir, Dinge für mich zu behalten?»
Sie funkelt Robbie an, wendet sich dann mir zu und hebt die Augenbrauen. «Oder sollten sich Freunde alles erzählen? Alles,
was ihnen je passiert ist?»
«Nein», sage ich leise. «Natürlich nicht.» Natürlich kannst du Geheimnisse haben, denke ich, ich habe schließlich auch welche.
Wir sollten sie ganz tief vergraben und mit aller Kraft versuchen, sie zu vergessen, und nie wieder darüber sprechen. Nie
wieder.
Aber ich komme nicht dazu, noch mehr zu sagen, weil Robbie wieder das Wort ergreift. «Halten wir Katherine da raus. Das ist
eine Sache zwischen uns beiden.»
|82| «Tja, sie steht aber da und hört sich alles an, als wäre es auch ihre Sache.»
«Tu ich nicht», sage ich, plötzlich defensiv und verlegen. «Ich wollte gehen. Du hast mich nach meiner Meinung gefragt.» Und
ich bremse mich gerade noch rechtzeitig, ehe ich mich anhöre wie ein bockiges Kind. «Wie auch immer», sage ich und zucke mit
den Schultern, «ich hab Hunger. Ich mache jetzt Frühstück.»
Ich drehe mich um und gehe in die Küche. Hinter mir fällt die Tür ins Schloss. Ich höre Robbie laut etwas sagen und dann Alice’
wütende Erwiderung. Alice’ aggressive Art hat mich verletzt, und es beschämt mich, für aufdringlich und neugierig gehalten
zu werden. Ich nehme die Zutaten aus dem Kühlschrank – Eier, Schinkenspeck, Zitrone, Schnittlauch, Butter –, lege alles auf die Arbeitsplatte und knalle wütend die Tür zu.
Als Erstes mache ich die Sauce hollandaise. Ich schlage die Eier auf und trenne sorgfältig Eigelb von Eiweiß. Ich kann noch
immer das Gemurmel von Robbies und Alice’ Stimmen aus dem Zimmer hören. Beide sind jetzt deutlich leiser und klingen ruhiger,
als würden sie sich wieder vertragen. Und während ich das Eigelb verquirle, die Schüssel mit einem Arm gegen den Bauch gedrückt,
während mein anderer Arm sich rasch im Kreis dreht, merke ich, dass ich lächle. Wir hatten einen Streit, denke ich, einen
richtigen Streit. Unseren ersten.
Wie das zwischen Freundinnen vorkommt.
|83| 11
S arah und ich kommen vor fünf in Jindabyne an. Ich liebe Jindabyne, die gemächliche, entspannte Lebensart dort, die kühle,
knackige Luft und den herrlichen Stausee. Wir waren als Kinder oft hier. Der Ort ist heute mit seinen Cafés und schicken Restaurants
entlang der Hauptstraße wesentlich moderner als früher, aber er hat sein verschlafenes ländliches Flair nicht verloren. Ich
glaube, das liegt an den breiten Straßen, dem gemächlichen Verkehr, der leicht verwaisten Atmosphäre nach dem Hochbetrieb
in der Wintersaison.
Ich habe ein Häuschen am See in einer Ferienanlage mit dem einfallslosen Namen «Lake Cabins» gebucht, aber ich bin angenehm
überrascht, als wir ankommen. Die Hütte ist warm, weil der Eigentümer netterweise schon mal die Heizung für uns angemacht
hat, und sie hat eine kleine Holzveranda mit Blick auf den See.
«Aber wo ist denn der Schnee?» Sarah läuft zum Fenster und blickt hinaus.
«Hier liegt keiner, Schätzchen. Aber morgen fahren wir mit einem besonderen Zug rauf auf den Berg, und da liegt dann jede
Menge Schnee.»
«Ist es ein Zauberzug?»
«Ich glaube ja», sage ich.
«Ein Zauberschneezug?»
«Ganz genau.» Ich nicke.
«Darf ich raus, spielen?»
|84| «Aber nur ein bisschen», sage ich. «Es wird schon dunkel.»
Ich helfe Sarah beim Anziehen ihrer Fleecejacke und Gummistiefel, und sie läuft vor Freude quietschend nach draußen. Sie ist
ganz aus dem Häuschen über diese neue Umgebung.
«Du gehst aber nicht ohne Mummy ans Wasser», ermahne ich sie.
Ich hole den Karton mit den Lebensmitteln – Milch, Tee, Zucker, Frühstücksflocken – aus dem Kofferraum und trage
Weitere Kostenlose Bücher