Die Wahrheit über Alice
ihn ins Haus. Ich kann Sarah von der Küche aus sehen,
und während ich auspacke und dann anfange, das Abendessen zu machen, schaue ich zu, wie sie mit einem Stock in der Erde gräbt,
fröhlich mit sich selbst spricht und vor sich hin singt. Ich habe auch Basilikum, Knoblauch und Pinienkerne gekauft und was
man sonst noch braucht, um Spaghetti mit Pesto zu kochen. Außerdem habe ich einen Kopfsalat und eine Avocado sowie etwas Balsamicoessig
für das Dressing besorgt.
Als das Pesto und der Salat fertig sind und ich einen großen Topf Nudelwasser aufgesetzt habe, ziehe ich meine Jacke über
und gehe nach draußen. Ich setze mich auf die Veranda und schaue Sarah beim Spielen zu.
«Mummy?», sagt sie nach einer Weile, ohne vom Spielen aufzublicken.
«Ja?»
«Mummy. Bist du glücklich?»
«Natürlich bin ich das.» Die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme lässt mich stutzen. «Ich hab ja dich, und deshalb bin ich sehr,
sehr, sehr glücklich. Ich bin die glücklichste Mummy auf der Welt. Das weißt du.»
«Ich weiß.» Sie nickt ernst. «Ich weiß, dass du deshalb glücklich bist. Aber bist du traurig, weil du keinen Daddy hast?»
«Aber ich hab doch einen Daddy. Grandpa ist mein Daddy.»
|85| Sie überlegt einen Moment. Dann blickt sie mich an, die Stirn nachdenklich gerunzelt. «Nein, ich meine einen Daddy für mich.
Bist du traurig, dass du keinen Daddy für mich hast?»
«Ich bin ein bisschen traurig.» Instinktiv möchte ich zu Sarah gehen, sie hochheben und knuddeln und kitzeln und abküssen.
Ich würde alle traurigen Themen am liebsten vermeiden, weil ich finde, dass sie für ein kleines Mädchen zu intensiv, zu schmerzhaft
sind. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass sie diese Fragen beantwortet haben will und weiter und weiter fragen wird, bis sie
zufrieden ist. «Ich vermisse deinen Daddy, und ich wünschte, er wäre nicht gestorben. Aber weil du mich so, so glücklich machst,
bin ich viel glücklicher als traurig.»
Sie lächelt, ein kleines, zaghaftes Lächeln der Erleichterung.
Und ich frage mich, ob es stimmt. Glück lässt sich nur schwer messen. Es gibt Augenblicke, in denen ich glücklich bin, keine
Frage, Augenblicke mit Sarah, in denen ich vergesse, wer ich bin und was passiert ist, Augenblicke, in denen ich die Gegenwart
genießen kann. Aber es liegt eine Last auf mir, eine tiefe Traurigkeit, eine Enttäuschung über die Unberechenbarkeit des Lebens,
und das Gefühl kann ich schwer abschütteln. Mitunter wird mir bewusst, dass Tage und Wochen vergangen sind, ohne dass ich
sie wirklich registriert habe, so als wäre ich irgendwie gar nicht da gewesen oder hätte auf Autopilot gelebt. Manchmal fühle
ich mich wie ein Roboter, der nur darauf programmiert ist, für Sarah zu sorgen, dafür verantwortlich, dass in ihrem Leben
alles reibungslos läuft, außerstande, mir irgendetwas für mich selbst zu wünschen. Meine größte Hoffnung auf Glück ist jetzt
Sarah. Wenn es ihr gutgeht, wenn sie im Leben von Tragödien und Herzeleid verschont bleibt, dann bin ich zufrieden. Aber das
ist das Höchste, was ich für mich selbst erwarten kann und will: Sarahs Zufriedenheit. Die Liebe zu ihr ist die einzige Emotion,
die ich bereit bin, in das Leben zu investieren.
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D ann sehen wir uns also Freitagabend?», sagt Mum.
«Ja.»
Ich will mich schon verabschieden und auflegen, als sie fragt: «Wie wär’s, wenn du deine neue Freundin mitbringst? Ehrlich,
bring Alice ruhig mit. Wir würden sie gerne mal kennenlernen.»
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mum und Dad Alice wirklich kennenlernen wollen. Sie scheinen keine Freude an geselligen
Kontakten mehr zu haben. Es ist anstrengend, zu lachen und zu lächeln und Konversation zu machen, wenn du die ganze Zeit eigentlich
nur an den Tod deines Kindes denken kannst, ein Thema, das du tunlichst meiden solltest, wenn du niemanden verschrecken willst.
Aber ich bin ihr dankbar, dass sie sich meinetwegen einen Ruck gibt, damit mein Leben so normal wie möglich verläuft.
Ich habe selbst schon mit dem Gedanken gespielt, Alice meinen Eltern vorzustellen, mich aber jedes Mal dagegen entschieden.
Mum und Dad sind so traurig, so still, dass andere manchmal nicht mehr wissen, wie sie sich verhalten sollen. Und ich habe
Alice noch nichts von Rachel erzählt. Daher würde sie den intensiven Ernst meiner Eltern, ihr Unvermögen, unbekümmert zu lachen,
ziemlich beunruhigend finden.
«Ich weiß nicht, Mum», sage ich,
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