Die Wahrheit über Alice
sie abgelehnt, und sie wurde adoptiert. Ich
weiß schon, dass sie die Leute, die sie adoptiert haben, nicht leiden kann. Das heißt, ich vermute, das sind die Leute, die
sie ihre Eltern nennt.»
«Ja, sie hasst sie.»
«Jetzt ergibt das alles etwas mehr Sinn. Ich habe das vorher nicht verstanden. Ich habe mich immer gewundert, wie sie so scheußliche
Sachen über ihre Eltern sagen kann. Dass sie fett und blöd und so sind. Und wie sie im nächsten Atemzug etwas total Nettes
über ihre Mutter sagt. Jetzt ist es mir klar warum: weil es zwei verschiedene Menschen sind. Sie hat zwei Mütter.»
«Genau. Ihre richtige, ihre leibliche Mutter heißt Jo-Jo.»
«Jo-Jo?»
«Ja. Die Hippieversion für Joanne. Sie ist ein hoffnungsloser alter Junkie. Eine Egozentrikerin par excellence.»
«Aber Alice –»
«Liebt sie total», fällt er mir ins Wort. «Vergöttert sie. Und Joanne ist stinkreich. Sie hat von ihren Eltern einen Haufen
Knete geerbt. Jetzt überschüttet sie Alice damit. Kauft ihr, was sie haben will. Und das Schräge dabei ist: Sie macht so richtig
einen auf vornehm-arrogant. Obwohl Jo-Jo ein Junkie ist, verachtet |77| sie die Leute, die Alice adoptiert haben. Und Alice macht den ganzen Scheiß auch noch mit.»
«Deshalb also hat sie den Schrank voll mit teuren Klamotten, und deshalb muss sie nicht jobben», sage ich. «Jo-Jo gibt ihr
Geld.»
«Genau. Um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, schätze ich. Sie war viel zu verkorkst, um Alice und ihren kleinen Bruder
zu versorgen, als sie klein waren, also stopft sie ihnen als Wiedergutmachung die Kohle vorne und hinten rein.»
«Bruder? Alice hat einen Bruder?»
«Ja.»
«Einen Bruder.» Ich schüttele den Kopf, völlig baff. «Wow. Ich hatte keine Ahnung. Sie hat ihn noch nie erwähnt. Wie heißt
er?»
Robbie runzelt die Stirn. «Weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Alice benimmt sich immer ganz komisch, wenn sie über ihn spricht.
Regt sich auf und so. Sie nennt ihn nur ihren kleinen Bruder. Ich weiß, dass er mal Ärger mit der Polizei hatte, irgendeine
große Sache, aber ich weiß nichts Genaues. Drogen vermutlich, wie bei seiner Mutter.»
Ich bin erstaunt zu erfahren, dass Alice einen Bruder hat, dass sie adoptiert ist, dass sie Geheimnisse hat, die fast so katastrophal
sind wie meine. Alice und ich haben mehr gemeinsam, als ich dachte, und ich bin mir sicher, dass dieser Zufall einfach zu
ungewöhnlich ist und sich nur als eine Art Zeichen erklären lässt: ein Zeichen, dass Alice und ich vom Schicksal dazu bestimmt
waren, uns kennenzulernen und Freundinnen zu werden.
«Was für ein Fiasko.»
«Kann man wohl sagen.»
«Das Leben kann manchmal ganz schön ätzend sein», sage ich. «Die arme Alice.» Aber eigentlich meine ich, wir Armen. |78| Wir alle drei haben schreckliche Sachen erlebt – Mord, Krebs, Verlassenwerden –, und zum ersten Mal bin ich versucht, Robbie von Rachel zu erzählen. Ich bin nicht auf Mitgefühl aus, sondern es geht mir
um die Glaubwürdigkeit, die man erst erwirbt, wenn man etwas Tragisches erlebt und durchgestanden hat. Ich kann sagen, dass
ich es verstehe, und das stimmt auch, aber für Robbie und Alice, die nichts über meine Vergangenheit wissen, müssen meine
Worte hohl klingen. Wie die tröstlichen, aber verständnislosen Worte aller vom Schicksal Verschonten.
Aber ich habe Angst, eine solche Unbesonnenheit am nächsten Morgen zu bereuen. Also sage ich nichts.
Am nächsten Tag werde ich früh wach, und obwohl es am Abend zuvor spät geworden ist, fühle ich mich frisch und unbeschwert.
Die Sonne fällt durchs Fenster auf mein Bett, und ich liege eine Weile einfach so da, nur mit einem Laken bedeckt, und genieße
das warme Sonnenlicht auf der Haut. Ich kann das tiefe Grollen des Ozeans hören, und ich höre, wie Robbie und Alice in ihrem
Zimmer leise reden und lachen.
Ich stehe auf, ziehe meinen Bademantel über und gehe in die Küche. Ich mache mir eine Tasse Tee und nehme sie mit auf die
Veranda. Ich beuge mich über die Balustrade und blicke hinaus auf den Strand. Das Meer ist herrlich, helltürkis, und die Wellen
brechen sich sanft am Strand. Mit der Tasse in den Händen steige ich von der Veranda und gehe bis ans Wasser. Ich trinke den
Tee aus, stelle die leere Tasse auf den Sand, blicke dann zurück zum Haus und den Strand rauf und runter, um sicherzugehen,
dass mich niemand beobachtet. Ich öffne meinen Bademantel und lasse ihn zu Boden gleiten,
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