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Die Wahrheit über Alice

Die Wahrheit über Alice

Titel: Die Wahrheit über Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca James
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darin etwas suchen. «Und du hast geflucht? Tust du doch sonst
     nie.» Ich kann nichts dagegen machen, ich klinge schroff und missbilligend.
    |92| «Ja, hab ich aber.» Falls Mum meine Stimmung bemerkt hat, lässt sie sich jedenfalls nichts anmerken. Sie bleibt weiter fröhlich
     und gut gelaunt. «Diese armen Männer. Denen klingeln bestimmt noch die Ohren.»
    «Arme Männer? Was für arme Männer?» Ich schließe den Kühlschrank und starre sie an.
    «Na, eigentlich Jungen, keine Männer. Die Jungen, die Rachel getötet haben.»
    «Arm? Das würde ich nicht sagen. Immerhin sind sie noch am Leben.»
    «Stimmt. Das sind sie. Und sie werden mit dem, was sie getan haben, für alle Zeit leben müssen.»
    «Gut so», sage ich heftig. «Sollen sie auch, verdammt nochmal.»
    «Ja.» Mum schaut mich an und lächelt. «Es ist in Ordnung. Lass es raus. Fluch ruhig, wenn du willst.»
    «Mensch, Mum, das hab ich doch alles längst getan.»
    «Gut. Na, das ist doch gut. Das freut mich», sagt sie lachend. «Es tut gut, wütend zu werden, nicht? Es tut manchmal gut,
     sich schlecht zu benehmen.»
    «Ich würde es nicht ‹sich schlecht benehmen› nennen. Ich würde es ‹sich benehmen wie ein normaler Mensch› nennen.»
    «Natürlich. Du hast vollkommen recht. Das sieht Alice auch so.»
    «Und dir geht’s gut?» Ich weiß nicht, warum ich nicht erleichtert bin. Aber irgendein seltsamer und beschämender Teil von
     mir ist enttäuscht, sie so heiter zu sehen. Vermutlich bin ich ein bisschen eifersüchtig auf Alice, weil
sie
diese Stimmung bei ihr bewirkt hat, nicht ich. «Du bist nicht aufgewühlt?»
    «Aufgewühlt? Doch, natürlich bin ich aufgewühlt, Liebes. Meine Tochter wurde ermordet. Aber es ist einfach ein gutes |93| Gefühl, mir   … mir einzugestehen, wie gottverdammt wütend ich wirklich bin. Ein wenig von dieser Wut rauszulassen.» Sie zuckt die Achseln
     und knetet ihren Teig weiter. Sie stößt grimmig die Fäuste hinein. «Es tut einfach so gut, es auszusprechen. Ich war so zornig
     auf diese Männer, diese Jungen, diese Schweine, dass sie mir schon fast leidtaten.»
    «Oh. Na ja. Das ist   –» Ich verstumme und wende mich ab. Dann gehe ich zum Kessel und beschäftige mich damit, den Zucker zu suchen, eine Tasse
     aus dem Schrank zu nehmen, Tee in die Kanne zu löffeln. Ich habe meine Mutter noch nie fluchen hören. Niemals. In fast achtzehn
     Jahren. Und statt mich darüber zu freuen, dass sie von diesem gesunden Zorn endlich etwas herauslässt, statt froh darüber
     zu sein, dass sie ein wenig aus sich herausgeht, bin ich den Tränen nahe. Ich bin verletzt. Ich habe so oft versucht, sie
     dazu zu bringen, über Rachel zu sprechen, ihre Wut zu zeigen, zu schreien und zu weinen und darüber zu fluchen, wie ungerecht
     das alles ist, aber sie war immer wie versteinert und stoisch, schmallippig und in keiner Weise bereit, sich von ihren Gefühlen
     überwältigen zu lassen.
    Wo ich gescheitert bin, hatte Alice Erfolg – und das so mühelos und schnell!
    Ich mache stumm meinen Tee fertig, und als ich die Küche verlassen und wieder nach oben in mein Zimmer gehen will, um ihn
     in gekränkter Einsamkeit zu trinken, kommt Mum auf mich zu. Sie stellt sich direkt vor mich, legt eine Hand auf meine Schulter
     und drückt sie. «Sie ist ein nettes Mädchen, deine Alice. Ich bin froh, dass du sie mitgebracht hast.»
    Ich nicke und ringe mir ein Lächeln ab.
    «Und sie hält große Stücke auf dich», sagt Mum. «Sie hat dich in den höchsten Tönen gelobt. Ich bin richtig froh, dass ihr
     zwei Freundinnen geworden seid.» Und dann beugt sie sich vor und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Sie lächelt, und es ist
     das |94| glücklichste, echteste Lächeln, das ich seit Rachels Tod in ihrem Gesicht gesehen habe. Mum breitet die Arme aus, und ich
     stelle meinen Tee ab und umarme sie. Wir drücken uns fest, ganz, ganz lange, und als wir uns wieder voneinander lösen, ist
     meine ganze Wut auf Alice verflogen. Sie hat Mum glücklich gemacht, und statt kindisch eifersüchtig zu sein, sollte ich dankbar
     dafür sein. Ich war ungerecht und ichbezogen und kleinlich. Und als ich die Treppe hochgehe, nehme ich mir vor, Alice gegenüber
     in Zukunft großzügiger und verständnisvoller zu sein. Schließlich hat sie die besten Absichten. Sie ist eine gute Freundin,
     eine liebenswürdige und großzügige Freundin, und sie hat das Herz auf dem rechten Fleck.

|95| 13
    R achel, Carly und ich legten auf dem Weg zur Party noch

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