Die Wahrheit über Alice
Flasche kreisen und setzten dabei unseren Weg fort,
wir tranken jede etliche Schlucke, und je mehr sich unsere Sinne an den Alkohol gewöhnten, desto besser schmeckte er und desto
größer wurden die Schlucke, die wir nahmen.
Als die Flasche leer war, blieb Carly stehen.
«Wartet mal kurz.» Sie stellte ihre Tasche auf die Erde, zog |98| eine große Glasflasche heraus und drehte sie so, dass wir das Etikett sehen konnten: Stolichnaya Vodka. «Ihr habt doch nicht
gedacht, dass ich uns auf dem Trockenen sitzenlasse, was?» Sie grinste uns an. «Wir müssen ihn jetzt pur trinken. Limo ist
alle.» Sie füllte die Trinkflasche und hielt sie Rachel hin. «Du zuerst. Am Anfang schmeckt es wieder wie Feuer. Aber du gewöhnst
dich dran.»
Rachel setzte die Flasche an die Lippen und trank einen kräftigen Zug. Als sie sich schüttelte und das Gesicht verzog, mussten
wir lachen.
Wir brauchten für die Strecke ungefähr vierzig Minuten, und als wir ankamen, waren wir ganz schön beschwipst. Rachel hatte
auf beiden Wangen je einen kreisrunden roten Fleck und im Gesicht ein breites Grinsen. Sie sah hübsch und unschuldig und sehr
jung aus.
«Wie fühlst du dich?» Ich nahm ihre Hand und lächelte. Der Wodka hatte meine anfängliche Gereiztheit vertrieben und mich milde
gestimmt. Ich war nicht mehr sauer auf sie, weil sie unbedingt hatte mitkommen wollen. Es war einfach nicht mehr wichtig.
«Alles okay?»
Wir hatten die Scheune noch nicht betreten, aber wir konnten die Musik hören, den dumpfen Bassrhythmus, das Stimmengewirr
und Gelächter. Junge Leute, die sich amüsierten. Junge Leute unter sich, ohne Erwachsene.
Rachel schaute mich nur an, noch immer lächelnd, und nickte. Sie fing an, ihren Körper im Takt der Musik zu bewegen. Sie hob
die Augenbrauen und legte den Kopf schief, als würde sie genau auf die Noten achten.
«Los!» Carly, die hinter uns stand, gab uns einen sanften Schubs. «Wir wollen hier schließlich keine Wurzeln schlagen. So
lieb ich euch auch hab, ich bin nicht das ganze Stück gelatscht, bloß um mit euch beiden hier draußen herumzulungern.»
|99| Als wir uns dem Eingang der Scheune näherten, kam mir kurz der Gedanke, dass ich die ganze Sache nicht besonders gründlich
durchdacht hatte. Wir hatten geplant, bloß für eine Stunde mitzukommen. Wir hatten geplant, dass Rachel spätestens um fünf
zu Hause sein sollte, damit sie noch genug Zeit zum Klavierüben hatte. Aber wir waren gut zehn Minuten bei Carly gewesen,
und der Fußmarsch hatte nochmal vierzig Minuten gedauert. Und als ich Rachel jetzt hineingehen sah, mit rhythmisch hüpfenden
Schritten, wurde mir klar, dass wir zu spät zu Hause sein würden. Wäre Rachel einfach nach Hause gegangen, wäre alles in Ordnung
gewesen. Ich hätte Mum und Dad später anrufen können und mir irgendeine Ausrede einfallen lassen, hätte sagen können, dass
ich noch bei Carly an einem Referat arbeitete. Sie wären zwar verärgert gewesen, aber nicht so wütend, wie sie es jetzt sein
würden, jetzt, wo Rachel mit im Spiel war. Dass Rachel zu spät kam, wäre richtig schlimm. Sie war erst vierzehn und ließ das
Klavierüben ausfallen, und schon das allein war immer eine kapitale Sünde. Und ich hatte keinen Schimmer, wie wir den Wodkageruch
kaschieren sollten. Eines stand fest: Wir würden Ärger kriegen, Riesenärger.
Wenn das so war, sollte ich mich vorher wenigstens noch ordentlich amüsieren, dachte ich, als ich Rachel in die Scheune folgte.
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A lice geht vor uns her, nur knapp zwei Schritte, aber das reicht, um eine Unterhaltung mit ihr schwierig zu machen. Sie will
uns zeigen, dass sie nicht in Plauderlaune ist. Ich glaube nicht, dass sie unglücklich oder sauer oder verstimmt ist – im
Gegenteil, sie ist guter Laune und glüht förmlich vor Energie und Schönheit, sichtlich begeistert, an einem so herrlichen
Herbstabend auszugehen und noch einmal das warme Wetter zu genießen, bevor es kälter wird.
Aber manchmal ist sie eben so, gedankenverloren und wortkarg. Robbie und ich kennen das an ihr und fragen uns nicht mehr,
ob sie wegen irgendwas verärgert oder beleidigt ist. Wir wissen, dass sie sich manchmal einfach lieber nicht an einem Gespräch
beteiligt. Robbie hat einmal sogar einen Witz darüber gemacht. Robbie und ich unterhielten uns angeregt über unsere gemeinsame
Leidenschaft für Musik – alles von Rock über Pop bis hin zur Oper –, als wir merkten, dass Alice auf der
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