Die Wahrheit über Alice
einen Zwischenstopp bei Carly zu Hause ein. Carly zog ihre Schuluniform
aus und schlüpfte in eine Jeans, ein enges, ärmelloses Top und ein Paar flache, goldfarbene Sandalen. Sie bot uns auch etwas
zum Anziehen an, und ich suchte mir eine Jeans und ein gestreiftes T-Shirt aus, doch für Rachel waren Carlys Klamotten alle zu groß.
«Dann musst du eben so gehen», sagte ich.
«Ich werd so was von uncool aussehen», jammerte Rachel und schaute an sich hinunter. Sie hatte die Krawatte bereits abgenommen
und die Bluse aus dem Rock gezogen, damit die Uniform möglichst salopp aussah, aber an der Länge des Rocks war nun mal nichts
zu ändern – lang und grün und steif hing er ihr bis über die Knie, wie bei Privatschulen üblich. «Ich werde total auffallen.»
«Na und?», sagte ich. «Du wirst sowieso auffallen. Du wirst die Jüngste sein, die einzige Vierzehnjährige weit und breit.»
«Aber ich –»
«Rach», unterbrach ich sie. «Hör auf zu maulen. Vergiss nicht, du hast da eigentlich gar nichts zu suchen. Das sind meine
Freunde, nicht deine.»
Rachel und ich lösten unsere Haare und ließen sie herabhängen – Rachels lang und glatt und golden, meine braun und wild gelockt.
Wir borgten uns Carlys Lipgloss und schminkten uns die Augen dunkel mit Mascara und Eyeliner.
|96| Carly nahm ihr Handy aus der Schultasche und schaltete es aus. Sie legte es auf ihr Bett. «Wenn ihr nicht von euren Eltern
angerufen werden wollt», sagte sie, «lasst eure lieber auch hier. Ich geb sie euch morgen in der Schule zurück.»
Rachel sah mich unsicher an. Sie wartete darauf, dass ich die Entscheidung traf. Ich zuckte die Achseln, zog mein Handy aus
der Tasche, schaltete es aus und warf es auf Carlys Bett. Rachel tat es mir rasch nach.
Nachdem wir uns noch mit einem teuer aussehenden Parfum von Carlys Mutter besprüht hatten – auf ihrer Kommode drängelten sich
die Fläschchen und Flakons –, zogen wir los. Wir hatten nicht genug Geld für ein Taxi, also beschlossen wir, zu Fuß zu gehen. Wir waren kaum fünf Minuten
unterwegs und unterhielten uns munter darüber, welches der Häuser, an denen wir vorbeikamen, uns am besten gefiel, als Carly
in ihre Umhängetasche griff und eine Plastiktrinkflasche hervorholte.
«Moment», sagte sie. Sie blieb stehen, schraubte den Verschluss von der Flasche und nahm einen Schluck. Ihre tränenden Augen
und ihr Keuchen, als sie die Flasche wieder senkte, ließen keinen Zweifel daran, dass sie kein Wasser trank.
«Wodka.» Sie hielt mir die Flasche hin. «Mit ein bisschen Limo. Willst du?»
Ich schüttelte amüsiert und ungläubig den Kopf, nahm die Flasche aber trotzdem. Ich hätte mir denken können, dass Carly nicht
ohne Alkohol zu der Party gehen würde. Sie hatte als erstes Mädchen an unserer Schule angefangen Alkohol zu trinken, und kannte
immer jemanden, der älter war und Hochprozentiges für uns kaufte, wenn wir was brauchten.
Ich hob die Flasche an den Mund und trank einen vorsichtigen Schluck. Es schmeckte stark, deutlich mehr Wodka als Limo. «Mensch,
Carly, das Zeug ist hammerhart», sagte ich, als ich die Flasche zurückgab.
|97| «Rach?» Carly hielt Rachel die Flasche hin und hob fragend die Augenbrauen. Rachel sah mich an, als wartete sie auf meine
Erlaubnis.
«Von mir aus.» Ich zuckte die Achseln. «Aber du wirst es nicht mögen. Beim ersten Mal schmeckt es wie Benzin.»
Rachel nahm einen kleinen Schluck, und wie ich vermutet hatte, kniff sie die Lippen zu und verzog angewidert das Gesicht.
«Igitt. Das ist ja ekelhaft», sagte sie.
«Ist nur Mittel zum Zweck.» Carly schüttelte den Kopf, als Rachel ihr die Flasche wiedergeben wollte, und schob Rachels Hand
zurück. «Nimm noch einen Schluck. Je mehr du trinkst, desto leichter wird’s. Du wirst lockerer und kannst dich besser amüsieren.»
Rachel gehorchte, hob die Flasche erneut und trank noch einen Schluck.
«Eigentlich gar nicht so schlecht», sagte sie, obwohl sie wieder eine Grimasse zog. «Aber ich glaube, normale Limo schmeckt
mir doch besser.»
Carly lachte. «Aber mit normaler Limo wird’s nicht so lustig. Glaub mir.»
Ich weiß nicht, wieso es mich nicht beunruhigte, dass Rachel davon trank. Ich weiß nicht, wieso ich nicht besser auf sie aufpasste
und darauf achtete, wie viel sie trank. Ich hätte dafür sorgen müssen, dass sie halbwegs nüchtern blieb. Ich schätze, der
Wodka zeigte auch bei mir seine Wirkung – bei uns allen. Wir ließen die
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