Die Wahrheit über Alice
erträglich machen, ja, mir sogar das Gefühl geben, dass es das wert war.
|167| Ich war so damit beschäftigt, an Will zu denken, mich an seine Berührung zu erinnern und an jedes einzelne Wort, das er gesagt
hatte, dass ich erst nach einer ganzen Weile merkte, dass ich die Landschaft draußen vor dem Fenster noch nie gesehen hatte.
Ich spähte in die Dunkelheit, sah die Silhouetten von Bäumen und Gebäuden, versuchte rauszufinden, wo wir waren, irgendetwas
zu erkennen. Aber es nützte nichts. Alles war mir fremd.
«Ähm, Grant?», sagte ich. «Wir wohnen in Toorak, weißt du noch? Die Gegend hier kenn ich gar nicht.»
«Wir wohnen in Toorak, weißt du noch?»
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er meine Stimme imitierte, dass er mich nachäffte. Ehe ich dazu kam, mich
zu fragen, warum er plötzlich so unfreundlich war, lachte er und wiederholte es noch einmal.
«Wir wohnen in Toorak, weißt du noch?» Seine Stimme war lächerlich hoch, die Vokale klangen knapp und schneidend. «Manche
sind echte Glückspilze, was? Andere haben nicht das Glück, in Toorak wohnen zu können.» Er lachte böse. «Aber irgendwer muss
ja in den Dreckslöchern hausen, oder? Irgendwer muss ja in den miesesten Ecken hausen, nicht weit von der Müllkippe und der
Kanalisation und vom Knast. Manche von uns dürfen Rosen riechen, während den anderen das Gesicht in die Scheiße gestoßen wird,
was? So ist das nun mal. Hab ich recht, Sean? Das ist nun mal der Lauf der beschissenen Welt.»
Sean lachte, ein kurzes, nervöses und sehr künstliches Lachen. Ich sah ihn an und wollte ihm zulächeln, aber er weigerte sich,
mir in die Augen zu schauen. Er starrte geradeaus und trank einen Schluck Bier. Eigentlich hatte er ein ganz attraktives Gesicht
unter dem Fett – strahlend blaue Augen, schöne Haut. Er könnte gut aussehen, wenn er abnehmen würde. Und dann dachte ich,
wie seltsam es war, dass seine Hand zitterte – so stark, dass er mit der Bierdose kaum seinen Mund traf und ihm das Bier |168| am Kinn herabtropfte. Seine Stirn war schweißnass. Ich spürte plötzlich, was es war: Er hatte Angst. Und eine Sekunde lang
tat er mir leid. Wovor er wohl Angst haben mochte?
Das war der Moment, in dem ich begriff, dass Rachel und ich in Gefahr waren.
Die Angst packte mich im selben Augenblick. Meine Kehle war so fest zugeschnürt, dass ich kaum schlucken konnte. Ich spürte,
wie sich mein Magen schmerzhaft verkrampfte, spürte, dass meine Hände zitterten und mein Herz raste. Die Feindseligkeit, die
die Jungs im Auto verströmten, war plötzlich fast greifbar. Sie schauten mich nicht an, sie antworteten nicht. Wieso war mir
das nicht schon vorher aufgefallen? In meiner verzweifelten Hast, Rachel nach Hause zu bringen, war ich leichtsinnig gewesen.
Ich hatte gedacht, diese Jungs seien einfach nur ungehobelt. Aber jetzt wurde mir klar, dass ihre Kälte unheilvoll war.
Ich wusste nicht, was sie geplant hatten oder wo sie mit uns hinwollten, aber sie hatten etwas vor, garantiert. Sie steckten
alle unter einer Decke. Sie waren alle mit von der Partie. Und wir waren ihnen ausgeliefert.
Die haben Rachel mit Drogen betäubt, dachte ich. Und kaum war mir der Gedanke gekommen, da wusste ich, dass es stimmte. Und
sie wollten mich auch unter Drogen setzen. Deshalb sollte ich von ihrem Bier trinken. Rohypnol. Ich hatte davon gehört, wir
waren an der Schule davor gewarnt worden, von der Polizei. Holt euch eure Getränke immer selbst, hatten sie gesagt. Trinkt
nie was, bei dem ihr euch nicht hundertprozentig sicher seid, woher es stammt.
Aber Rachel war so vertrauensselig, so naiv. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass diese Jungs ihr etwas Böses wollen könnten.
Sie sahen mich nicht an, weil sie kein Mitgefühl empfinden wollten. Grant war eindeutig ihr Anführer. Er war entspannt |169| und souverän, summte beim Fahren vor sich hin, einen Ellbogen lässig aufgestützt. Die anderen wirkten alle nervös, beinahe
starr, aber Grant nicht. Vielleicht wussten sie, dass das, was sie machten, falsch war. Vielleicht konnte ich doch ihr Mitleid
wecken.
«Bitte. Könnt ihr uns nicht einfach nach Hause bringen? Bitte?», sagte ich und versuchte, das Zittern aus meiner Stimme zu
halten.
«Ich bring euch schon noch nach Hause. Meine Fresse. Wie kann man nur so undankbar sein. Wir machen vorher nur einen kleinen
Umweg. Müssen noch was erledigen.» Er warf einen Blick über die Schulter und
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